Samstag, 23. August 2014

"Revolutionen" von J.M.G. Le Clézio 





Es bleibt in Erinnerung ...


... die Story

Der dreizehnjährige Jean Marro wächst zur Zeit des Algerienkrieges an der französischen Mittelmeerküste auf. In den Nachmittagsstunden liebt er es, seine Tante Catherine zu besuchen. Sie erzählt ihm von Mauritius, wo Jeans Ahnen ein Anwesen (mit Namen Rozilis) besessen haben. Jean lauscht seiner Tante gerne, denn er fühlt, dass dort im fernen Paradies die Wurzeln der Familie liegen. Alles scheint ein bisschen geheimnisumwittert und der Leser ist genauso gespannt wie Jean und möchte mehr erfahren.
Das Buch wartet mit weiteren Erzählebenen in der Vergangenheit auf. Zum einen sind dies Passagen, in denen ein Urahn Jeans sich für die Freiheit der Sklaven einsetzt. Brutale Auswüchse beherrschen die Zeit und Jean Eudes Marro (der Ahne) kommt erst in Rozilis zur Ruhe. Dort lebt er dann mit seiner Familie sehr abgeschieden in einem paradiesischen exotischen Kleinod.
Auch Jean ist auf der Suche nach Heimat, lebt unstet, hat wechselnde Beziehungen zu Frauen und verlässt schließlich Frankreich, um nicht als Soldat in Algerien kämpfen zu müssen. Es folgen Auslandsjahre in London und Mexiko.
Zur Ruhe kommt Jean erst, als er nach Mauritius reist und Rozilis nachspürt. Es ist wie ein Nachhausekommen. Auch besucht er das Grab von Jean Eudes Marro und fühlt sich dem fernen Ahnen wunderbar nahe.

... das bewegte Herz

Das Gewicht von Heimat, das Sichverbundenfühlen mit einem Landstrich und den Menschen, die Familie bedeuten. Ankommen, sich ganz fühlen.

... ein Zitat

"Die Erinnerung ist nichts Abstraktes, dachte Jean. Sie ist eine Substanz, eine lange Faser, die sich um die Wirklichkeit wickelt, sie mit Bildern aus fernen Zeiten verknüpft, deren Vibrationen verlängert und ihre Strömung bis in die verästelten Nerven des Körpers weiterleitet."

... die Sprache

Warm, melodisch, klingend. Mit sehr viel Gefühl, ohne ins Kitschige zu rutschen. Immer wenn man denkt "haarscharf", ist man schon wieder gerettet ...


Das Buch hat ein paar Längen, aber es lohnt sich, mit gespitzter Aufmerksamkeit dabei zu bleiben! 
Angeblich ist dies das persönlichste Werk des Literaturnobelpreisträgers J.M.G. Le Clezio. Er klingt sehr viel Autobiographisches an.








"Vielleicht Esther" von Katja Petrowskaja 




Es bleibt in Erinnerung ...


... die Story

Hält man das Buch in der Hand, möchte das Cover dem Leser einen Roman versprechen, blättert man es auf, erblickt man den Zusatz "Geschichten". Katja Petrowskaja verknüpft in ihren Kapiteln Lebensabschnitte verstorbener Familienmitgliedern, greift "verlorene Fäden" auf, fügt recherchierend zusammen, schafft Bezüge, sortiert und archiviert. Sie geht dabei persönlich ambitioniert vor. Fast ist es, als ergäbe sich dieses Buch nur, weil alles irgendwo niedergeschrieben werden muss, davor bewahrt werden muss, wieder verloren zu gehen.
Die Autorin fährt von Berlin aus nach Warschau, nach Ausschwitz und nach Mauthausen und ist auf der Suche nach den Spuren ihrer jüdischen Ahnen. Die Vergangenheit braucht Worte, man spürt, wie Katja Petrowskaja sie sucht, denn die deutsche Sprache ist nicht ihre Muttersprache. Und doch wirken ihre Geschichten ungezwungen, wahrscheinlich, weil sie so locker aufgereiht sind.
Einiges bleibt auch im "Vielleicht" stecken, da die Menschen sich nicht mehr richtig erinnern oder verlässliche Quellen fehlen. So auch der Name ihrer Urgroßmutter.

... das bewegte Herz

Babuschka Rosa, die erblindet und  Babuschka Esther, die auf offener Straße erschossen wird. Großvater Wassilij in seinem Rosarium  und dann als Name auf der Mauthausener Registrierungskarte. Wie Katja Petrowskaja in den Baracken steht und ihm nachspürt.

... ein Zitat

"Ich wollte mich immer mir der Geschichte beschäftigen, sagte mir mein Vater, aber ich wollte nie, dass sie sich mit mir beschäftigt, und er sagte auch, dass man keine Verwandten brauche, um einen Bezug zur Geschichte zu haben. Und ich sagte, doch, ich habe nun einmal diese Neigung, alles in ein großes Panorama zu stellen, als befänden wir uns selbst in der Windrose des Geschehens ..."

... die Sprache

Sehr bildreich und phantasievoll. Frisch und nicht erstarrend, wenn es um Trauer geht. Die Bilder haben oft Witz und Charme. Beeindruckend, wie die Autorin es versteht, sich in Deutsch auszudrücken.

Sonntag, 10. August 2014

"Middlesex" von Jeffrey Eugenides





Es bleibt in Erinnerung ...


... die Story

Über drei Generationen hinweg wird die Geschichte der Familie Stephanides erzählt. Ihre Anfänge liegen in Griechenland, es folgt die Auswanderung in die Türkei und schließlich die Flucht nach Amerika. Geschichtliches ist interessant eingebettet, im Mittelpunkt stehen aber die Menschen, vorne an Cal, der Icherzähler, der diesem Buch seinen ganzen Charme schenkt. Er erhebt sich über die drei Generationen als genialer Beobachter und macht nicht nur sich selber zu einem ungemein starken Charakter, sondern jeden einzelnen, der hier seine Rolle innehat. Es ist ein bisschen gottgleich, wie als würden die Familienmitglieder an Fäden eines Puppenspielers geführt, um schließlich Cals eigentliche Geschichte ins Zentrum der Bühne zu rücken.
Cal fühlt sich nicht wohl in seiner geschlechtlichen Identität und der Leser erfährt nach und nach, was sich in der Generationenfolge zugetragen hat. Ein Gen geht auf Reisen ... Manchmal dünkt es einen etwas befremdlich und bizarr und doch ist es so erzählt, dass der Leser nickt und denkt, so kann es gewesen sein. Cal ist nicht normal, aber was heißt das? Was macht uns zu Mann oder Frau? Was ist angeboren und was ist uns anerzogen? Das wird vortrefflich in diesem Roman vorgeführt. Die Peinlichkeit des Themas Inzest und Intersexualität bleibt aus, einfach weil dieser Roman so vortrefflich geschrieben ist. 

... das bewegte Herz

Jeder Charakter in diesem Buch rührt, seien es die Großeltern Eleutherios und Desdemona, die Eltern Milton und  Tessie oder Cal selber. Man möchte bei den Persönlichkeiten verharren, man saugt sie ein. Man liebt sie.

... ein Zitat

"Von frühester Kindheit an wussten sie, wie wenig Wert die Welt auf Bücher legte, und verschwendeten daher auch nicht ihre Zeit damit. Wohingegen ich selbst jetzt noch hartnäckig glaube, dass diese schwarzen Zeichen auf weißem Papier von größter Bedeutung sind, ja dass ich, wenn ich weiterschreibe, den Regenbogen des Bewusstseins in einem Glas einfangen könnte ...
Wenn diese Geschichte nur für mich selbst geschrieben wird, auch gut. Aber so fühlt es sich nicht an. Leser, ich spüre dich."

... die Sprache

Sprachlich meisterhaft. Eugenides Schreibstil ist unvergleichlich. Man wird nicht müde ihm zu lauschen, man wird belohnt!

Samstag, 2. August 2014

"Weil es Liebe ist"  herausgegeben von Nadja Mayer




Es bleiben in Erinnerung ...


... die Stories

Siebzehn Geschichten über die Liebe sind in diesem Erzählbändchen vereint. Auf das Büchlein aufmerksam wurde ich, weil mich die in Aussicht gestellten Autoren sehr beeindruckt haben. Nadja Mayer hat eine zu beachtende Auswahl getroffen, seien hier mal nur Judith Hermann, Ralf Rothmann. Daniel Kehlmann und Peter Stamm genannt.
"Skizze eines Unglücks" von Max Frisch möchte ich herausheben, denn diese Erzählung erschien mir gleichermaßen geschickt konstruiert und geistreich enthüllend, wie eine Partnerschaft schwer trägt an Gesagtem und Nichtgesagtem und dieses die Liebe zermürbt.

... das bewegte Herz

Verpasste Gelegenheiten. Missverständnisse.

... ein Zitat

"Die Zeit schien vor- und zurückzuschnellen, warf Schleifen und Verschlingungen wie ein sich aus der Spule rollender Film, und ich wusste im nachhinein nicht mehr, ob nur mein unordentliches Gedächtnis schuld oder ob die Wirklichkeit selbst in Verwirrung geraten war. Eine Erinnerung zeigt mich ausgestreckt, während ihr Körper sich über mir erhebt, silbrig weiß vor dem matten Licht im Fenster ..."
("Wie ich log und starb" von Daniel Kehlmann)

... die Sprache

Wie es nicht anders sein kann: sehr unterschiedlich.
Mich hat sprachlich vornehmlich die Kurzgeschichte von Angelika Overath fasziniert. Ich würde gerne mehr von dieser Autorin lesen.

Kurzgeschichten dürften nicht eine nach der anderen verschlungen werden, denn sonst schenkt man jeder einzelnen nicht ausreichend Aufmerksamkeit ...
Aber was tun, wenn man nicht aufhören kann ... ?

"Corpus Delicti" von Juli Zeh





Es bleibt in Erinnerung ...


... die Story

Juli Zeh entwirft in diesem Buch ein erschreckendes Zukunftsszenario: eine Gesundheitsdiktatur, die den Menschen vorschreibt, wie sie zu leben haben, damit Krankheiten keine Chance haben und ausgerottet bleiben. Es gibt obligatorische Gesundheitstests, Fitnessprogramme müssen absolviert werden, man darf sich nicht in der Natur aufhalten, keinen Alkohol oder Kaffee trinken oder rauchen. Eine zentrale Partnerschaftsvermittlung ermittelt über DNA- Analysen für jeden Menschen den passenden Partner. Anhand im Oberarm implantierter Datenchips kann überwacht werden, wie weit sich jeder an die diktatorischen Vorgaben hält.
Mia Holl hat sich immer systemkonform verhalten, bis der Tod ihres Bruder sie aus der Bahn wirft. Ihr wird der Prozess gemacht und sie wird zum Tod durch Einfrieren verurteilt ...
Diese Inhaltsangabe liest sich ein wenig wie ein x-beliebiger Science Fiction. Juli Zehs Anliegen ist jedoch der Kampf gegen jede Art von Überwachungsstaat. Sie ist eine intelligente Autorin, die Jura studiert und zusammen mit Ilija Trojanow das Buch "Angriff auf die Freiheit" veröffentlicht hat.
"Corpus Delicti" ist von Juli Zeh ursprünglich für die Theaterbühne geschrieben worden.

... das bewegte Herz

Als Mia Holl sich vor Gericht rechtfertigen muss und sie keine Chance hat, sich gegen die Unmenschlichkeit zur Wehr zu setzen.

... ein Zitat

"Ich entziehe Eltern das Vertrauen, die ein Baumhaus "Verletzungsgefahr" und ein Haustier "Ansteckungsrisiko" nennen. Ich entziehe einem Staat das Vertrauen, der besser weiß, was gut für mich ist, als ich selbst."

... die Sprache

Klug. Aber sie schafft Distanz. Das wiederum mag durchaus von Juli Zeh beabsichtigt sein.
Gefühle sind nicht erwünscht ...
"Der Wanderfalke" von J.A. Baker





Es bleibt in Erinnerung ...

... dass wir hier keine Story haben, keine Handlung im eigentlichen Sinne. Vom Anfang des Buches bis zu seinem Ende vergehen wohl sieben Monate, trotzdem hat man das Gefühl, dass die Zeit stillsteht ...
Der Autor beobachtet an der Küste von Essex ein Wanderfalkenpaar und das mit vermeintlich einfachen Mitteln, nämlich nur er und sein aufmerksamer Blick, Stift und Papier. Es ensteht eine Art Tagebuch, das sich liest wie eine Mixtur aus wissenschaftlichem Werk und poesievoller Prosa. Es ist letzteres, was diese "Naturkunden" so wertvoll macht, nämlich die Kunst, das Wanderfalkenpaar derart in diesem Text einzufangen, dass man fast eins wird mit dem Beobachter und den Vögeln. Man spürt seine Liebe zu den Tieren, fast schon eine gewisse Obsession und erfährt wie beglückend es sein kann, sich ganz der Naturbeobachtung hinzugeben.

... das bewegte Herz

J.A. Baker, wie er still und mit beseelter Aufmerksamkeit über Monate die Wanderfalken beobachtet. Und nicht nur die Liebe zu den Vögeln glänzt in diesem Buch, sondern auch die außergewöhnliche Kunst, die Natur zu beschreiben. Er spielt mit Farben, der Luft, dem Licht und zaubert Bilder, die man sich am liebsten einrahmen und an die Wand hängen möchte.

... ein Zitat

"Er legte sich in den Wind, stieg in steilen Spiralen auf und schwebte mit lyrischer Leichtigkeit tausend Fuß höher. Mühelos fegte und trieb er dahin, klein und langsam kreiselnd wie ein geflügelter Ahornsame im Wind."

... die Sprache

Feinste Poesie.
Die Beobachtungen wiederholen sich, seien es der Himmel, das Licht, die Salzwiesen, die Goldammern und Wanderfalken, doch nie wiederholt er sich in seinen Betrachtungen, immer findet er neue wortschöpferische Möglichkeiten.