Montag, 26. Mai 2014

"Happy End" von Viktorija Tokarjewa




Es bleibt in Erinnerung ...


... die Story


Elja lebt mit ihrem Sohn, ihrem Mann und den Schwiegereltern in einem kleinen russischen Dorf. "Die Welt war ruhig und friedlich ...", aber Elja zieht es in die Großstadt. Sie möchte nicht mehr in "Gemüsegärten" leben. In Moskau lernt sie den Schauspieler Mischatkin kennen und trennt sich von ihrem Mann, sie lernt den Psychologen Iwan kennen und ...
So setzt sich ihr Leben fort, denn nie hält sie es in irgendwelchen Bindungen und an festen Orten aus, immer sucht sie die Veränderung. Es geht soweit, dass sie sogar einem Europäer in den Westen folgt, aber auch dort feststellt, dass sie nicht zur Ruhe kommt. Geld, Reichtum und Pelze werden für sie wichtig, aber natürlich bedeuten auch sie nicht das Glück.
Das Buch liest sich wie ein modernes Märchen. Am Ende bekommt Elja den weisen Satz zu hören, dass die Kinder das eigentliche Kapital im Leben sind und die Enkel die Zinsen ...
Ein Happy End stellt sich nicht ein, aber der Titel ist durchaus passend, denn die Geschichte lebt vom lakonischen Humor der Autorin.

... das bewegte Herz

Die Suche nach dem Glück und das Unvermögen, es zu finden. Eljas Fassungslosigkeit, wenn sie mal wieder vor Scherben steht und neu anfangen muss.
Die Figur der Elja. Man gewinnt sie lieb.

... ein Zitat

"Ein Mensch gilt als tot, wenn das Herz stillsteht. Und was, wenn die Seele stillsteht?"

... die Sprache

Kurze Sätze, aber sie sitzen. Man begibt sich auf eine wunderbare Reise durch dieses moderne Märchen. Es schafft ganz viele Bilder, die den Leser ob ihrer Ungewöhnlichkeit mitunter auch schmunzeln lassen.




"Sonetschka" von Ljudmila Ulitzkaja




Es bleibt in Erinnerung ...


... die Story

Das junge Mädchen Sonetschka liest jede freie Minute, versinkt ganz und gar in ihren Büchern. Als sie sich jedoch in den Maler Robert verliebt, schließt sie ihre Bücher und lässt ihr Leben von da an in der Realität stattfinden.
Nach ein paar Ortswechseln wohnen die beiden zusammen mit ihrer Tochter Tanja in Moskau. Robert kreiert Bühnendekorationen und Sonetschka geht ganz ihrer Hausarbeit auf. Als Tanja die Waise Jasja kennenlernt, geben sie dem Mädchen ein neues Zuhause. Robert ist von der jungen Jasja fasziniert und fängt wieder an zu malen. Im Atelier kommen die beiden sich näher.
Sonetschka kehrt in die Welt der Bücher zurück, spinnt sich wieder in den Kokon entrückter Lesestunden, gewinnt Abstand und Ruhe.
Sie reagiert mit Gelassenheit auf viele Beschwerlichkeiten in ihrem Leben. Auch die Liebe zwischen Robert und Jasja kann sie hinnehmen. Ihre Seele versteht es, aus allem etwas Glück zu ziehen und der Verzweiflung nicht die Tür zu öffnen. Sie begegnet Jasja sogar mit liebevoller Zuwendung und als Robert stirbt, sind die beiden einander ein Trost.

... das bewegte Herz

Wie Jasja in die Literatur flüchtet, wie diese sie mit einem gewissen Frieden umgibt. Ihre Großherzigkeit Jasja und Robert betreffend.

... ein Zitat

"... sie weidete ihre Seele auf den Weiten der großen russischen Literatur, tauchte mal in die beunruhigenden Abgründe des verdächtigen Dostojewski, mal in die schattigen Alleen Turgenjews oder in die kleinen, von der prinzipienlosen und großherzigen Liebe des als zweitklassig geltenden Leskow erwärmten Provinzgüter."

... die Sprache

Ausgesprochen zärtlich mit sehr viel Liebe für die Figuren. Ruhige Töne in ganz viel Poesie gesponnen.



"Im Rachen des Alligators" von Lisa Moore




Es bleibt in Erinnerung ...


... die Story

Sie erzählt von Menschen, die etwas bewegen und verändern wollen. Es sind die siebzehnjährige Colleen und ihre Mutter Beverly, eine Schwester der Mutter und verschiedene Männerfiguren, die ins Leben der Frauen treten und wieder verschwinden. Viele Wege trennen sich, einige kreuzen sich wieder. Nicht nur alltägliche Situationen müssen gemeistert werden, die Menschen manövrieren sich auch in höchst befremdliche Lagen. Colleen zum Beispiel reist nach Louisiana, um dort einen Mann kennenzulernen, der Touristen eine abenteuerliche Attraktion bietet: er steckt seinen Kopf in den Rachen von Alligatoren. Vor Jahren kam es zu einem Unfall, als eines der Tiere zubiss. Und auch Colleen begibt sich in Gefahr.
Es ist das große Thema des Buches: Lebenssituationen, die so brenzlig sind wie das Eintauchen in den Rachen eines gefährlichen Tieres ...
Lisa Moores Anliegen sind ihre Figuren, wunderbar gezeichnet und ausgeleuchtet. Sie möchten so gerne glücklich sein und wählen ausgefallene Wege. Und man nimmt sie ihnen ab.

... das bewegte Herz

All die Verluste und kleinen Dramen, die zärtlich geschilderten Figuren. Das Straucheln. Die Einsamkeit. Die Liebe.

... ein Zitat

"... gnadenlosen, puren, andächtigen Sex, den sie durchlebten, wie wenn ein Flugzeug durch eine dunkle Wolkenbank fliegt und auf der anderen Seite in der grellroten, blendenden Sonne herauskommt, doch jenseits des Liebesakts hielt sie etwas von sich zurück, das wusste er. Er hätte sich vorstellen können, sie zu heiraten, doch in ihrem innersten Wesen war sie flüchtig wie eine Seifenblase."

... die Sprache

Unvergleichlich im Schaffen der Charaktere, poetisch im Zeichnen der Figuren. Kurz und auslassend, wenn nichts mehr dazu gesagt werden muss. Zauberhaft und schön wie in "Und wieder Februar".



Lisa Moore wurde bekannt mit ihrem Buch "Und wieder Februar". Da ich es sehr gerne gelesen habe, reizte mich auch dieses.


"Verzweiflung" von Vladimir Nabokov





Es bleibt in Erinnerung ...


...die Story

Hermann Karlowitsch ist Schokoladenfabrikant und lebt mit seiner Frau Lydia in Berlin. Er ist selbstverliebt und  immer auf der Suche nach Anerkennung. Als er Felix kennenlernt, der ihm wie aus dem Gesicht geschnitten ist, entwickelt er die Idee, einen perfekten Mord zu planen und auszuführen. Er erhofft sich davon die Auszahlung seiner Lebensversicherung, sein eigentlicher Antrieb ist aber das Streben nach Bewunderung und Ruhm. Er schreibt seine Vorgehensweise nieder, um seine Genialität festzuhalten. Das Verbrechen stellt sich dann leider als doch nicht perfekt heraus und Hermann Karlowitsch sucht akribisch nach dem begangenen Fehler.

... das bewegte Herz

Hermann Karlowitsch amüsiert. Aber das Herz bewegt er nicht.

... ein Zitat

"Ich log wie die Nachtigall singt, entrückt und selbstvergessen; schwelgte in der neuen Lebensharmonie, die ich schuf. Für solch ein köstliches Lügen bekam ich von meiner Mutter eine Ohrfeige, und mein Vater verdrosch mich mit einer Reitpeitsche, die einmal eine Stierflechse gewesen war. Das schreckte mich nicht im geringsten; vielmehr beförderte es im Gegenteil den Flug meiner Einbildungskraft. Mit einem betäubten Ohr und brennendem Hintern lag ich dann im Obstgarten bäuchlings im hohem Gras und pfiff und träumte."

... die Sprache

Immer wieder hält man inne und bewundert Nabokovs Sprachkunst. Er ist einfach ein genialer großer Erzähler.

Sonntag, 11. Mai 2014

"Was mit dem weißen Wilden geschah" von Francois Garde





Es bleibt in Erinnerung ...


... die Story

1843 wird Narcisse Pelletier an der australischen Küste von einem englischen Schiff aufgegriffen. Er ist nackt, tätowiert und lebt zu diesem Zeitpunkt in einem Stamm von Aborigines. Auffallend ist seine weiße Hautfarbe. Sozusagen als Attraktion wird er ungefragt an Bord und mit nach Sydney genommen. Zufällig ist der französische Wissenschaftler Octave de Vallombrun dort vor Ort und nimmt sich seiner an. Er findet heraus, was es mit diesem weißen Wilden auf sich hat und es gelingt ihm, Narcisse wieder der französischen Sprache mächtig werden zu lassen. Octaves Forscherherz verbindet damit die Hoffnung, viel von dessen Jahren im Aboriginestamm zu erfahren. Das gestaltet sich aber schwierig, denn Narcisse gibt kaum etwas preis. Narcisse wird zum Untersuchungsgegenstand. Octave findet zum Beispiel heraus, dass Narcisse zwei Kinder in Australien zurückgelassen hat und plant, diese aufzufinden und auch nach Europa zu holen. An diesem Punkt wird der wissenschaftliche Wahnwitz extrem deutlich.
Sehr ansprechend ist die Konzeption dieses Romanes. Der Leser erfährt aus der Sicht von Narcisse viele Begebenheiten aus seinem Leben mit den Aborigines. Dazwischengesetzt sind Briefe, die Octave an den Präsidenten einer Forschungsgesellschaft richtet und in ihnen von seinen Fortschritten mit Narcisse berichtet.

... das bewegte Herz

Wie Narcisse wieder Französisch lernt. Die ersten kleinen Erfolge in der Kommunikation zwischen ihm und Octave.
Als Narcisse erfährt, dass seine (französische) Mutter noch lebt und man als Leser denkt, dass seine Freude groß sein müsste. Narcisse aber murmelt tieftraurig: "Meine Mutter ist tot. Sie war einige Tage lang krank. Viel Hitze, zu viel Hitze in sich." Sein Herz ist in Australien ...

... ein Zitat

"Und was ist mit mir? Hat mich dieses Abenteuer verändert? Meine Beobachtungen haben einige meiner Gewissheiten erschüttert. Was ist ein Wilder? Und falls Narcisse wirklich durch und durch ein Wilder geworden war, an welchem Tag, zu welcher Stunde wird er wieder ein Mitglied unserer Zivilisation sein? Was lehrt uns seine Lehrzeit über das Lernen? Und wer von uns beiden ist der Lehrling?"

... die Sprache

Dieses Buch ist in der Sparte "Abenteuerroman" zu Hause. Unter dem Aspekt kann man sagen, dass es sprachlich eine echte Überraschung ist!




Inhaltlich war ich nicht immer glücklich. Auf der einen Seite wirkt die Geschichte sehr konstruiert, auf der anderen Seite läuft einiges Angedachte ins Leere.

Mittwoch, 7. Mai 2014

"Bericht eines Schiffbrüchigen" von Gabriel García Márquez




Es bleibt in Erinnerung ...


... die Story

Im Februar 1955 geht der Seemann Luis Alejandro Velasco zusammen mit acht Freuden über Bord, als der Zerstörer Caldas auf dem Weg nach Cartagena in unruhiges Gewässer gerät. Luis gelingt es als einzigem, ein Rettungsfloß zu erreichen. Zehn lange Tage ist er daraufhin dem Meer ausgesetzt. Durst, Hunger, Kälte und die sengende Sonne setzen ihm sehr zu und er befindet sich in einem sehr schlechten Zustand, als er in Kolumbien auf Land stößt.
Er wird von den Einwohnern gefeiert, erfährt aber, dass nach ihm und seinen Freunden gar nicht gesucht wurde.
Einen Monat später berichtet Gabriel Garcia Márquez, damals Reporter bei der Tageszeitung "El Espectador" in Bogotá, über diesen Seemann. Er deckt auf, dass die Caldas eine große Menge Schmuggelware an Bord hatte und es aufgrund von einseitiger Ladung zu einer Schieflage kam, bei der die Männer über Bord gingen. Um die Umstände zu vertuschen, wurde von Seiten der Regierung nicht darüber berichtet.
Gabriel Garcia Márquez veröffentlicht mit Hilfe von Luis Alejandro Velasco jedes Detail zu diesem Vorfall. Die damalige Militärdiktatur schließt daraufhin die Redaktion der Zeitung, entlässt den Seemann aus der Marine und Marquez muss ins Exil flüchten.

... das bewegte Herz

Der Seemann in seinem Überlebenskampf und der keine Repressalien fürchtende junge Reporter Gabriel Garcia Márquez. Beide haben mich sehr bewegt.

... ein Zitat

"Als ich merkte, dass ich in der Dunkelheit versunken war und meine Handfläche nicht mehr erkennen konnte, war mein erster Eindruck, dass ich mein Grauen nicht würde beherrschen können. Am Geräusch des an die Bordkante schlagenden Wassers erkannte ich, dass das Floß langsam, aber unermüdlich vorantrieb. In Finsternis getaucht, merkte ich erst jetzt, dass ich am Tag gar nicht so einsam gewesen war."

... die Sprache

Man kauft sich das Buch in falscher Erwartung, nämlich der, dass es von Gabriel Garcia Márquez geschrieben sei. Und jeder weiß, was für ein begnadeter Erzähler er ist. Leider stammt nur das Vorwort von ihm. Die eigentliche Geschichte, vom Seeman verfasst, hat dann nicht dieselbe Klasse. Dennoch packt sie den Leser, sucht nicht nach Effekten und ist durchaus angenehm in Ausdruck und Sprache.


Donnerstag, 1. Mai 2014

"Ein Abend bei Claire" von Gaito Gasdanow




Es bleibt in Erinnerung ...


... die Story

Kolja begegnet als Gymnasiast in St. Petersburg der Französin Claire und verliebt sich in sie. Er erliegt ihrem Charme, die beiden werden aber kein Paar. Claire heiratet einen anderen Mann. 
Der Roman verspricht zunächst eine Liebesgeschichte, aber die Liebe zu Claire ist nur der Rahmen, der aufgespannt wird, um das Wesentlichere zu erzählen: Koljas Kindheit, die besondere Beziehung zu seinem Vater, der in ihm die Phantasie weckt, die Liebe zur Mutter, seine Schulzeit, seine Lektüren, sein Onkel Witali, der eine ganz wichtige Bezugsperson darstellt, und letztendlich Koljas Entschluss, freiwillig in den Bürgerkrieg zu ziehen. Der Leser lernt Kolja als einen jungen Mann kennen, der ständig auf der Suche nach sich und dem Sinn seines Lebens ist. Das entfernt ihn des öfteren von der Realität und er findet sich in Träumen und melancholischen Assoziationen wieder. So ist auch Claire für ihn kaum mehr als eine rätselhafte Sehnsucht, eine Rückkehr zu etwas Gewohntem, Vertrautem, nachdem er vorher dachte, er müsste seinen  "Drang zum Unbekannten" ausleben und auf diesem Weg das Lebensglück finden.

... das bewegte Herz

Kolja wird eher gefühlsarm geschildert, selbst schlimmste Kriegserlebnisse lassen ihn kalt. Mir scheint, dass es der Verlust seines Vaters war, der ihm am meisten zusetzte. In einem Traum leidet er sichtlich darunter, ihn verloren zu haben. 
Am meisten bewegt hat mich die Sprache.

... ein Zitat

"Das allergrößte Glück auf Erden ist der Gedanke, du hättest wenigstens ein bisschen was begriffen vom Leben um dich herum."

... die Sprache

In diesem Buch ist es nicht die Geschichte, die tief bewegt, sondern die Sprache, in die sie gebettet ist. Koljas Suche nach dem Glück ist wunderbar poetisch erzählt.