Montag, 23. Februar 2015

"Restwärme" von Kerstin Preiwuß

"Jahrelang das Gefühl, kein liebenswerter Mensch zu sein ..."



Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Nach Jahren kommt Marianne anlässlich des Begräbnisses ihres Vaters zurück in ihr Heimatdorf. Die Erinnerungen bemächtigen sich ihrer, packen sie im "Würgegriff". Ihr Vater, der trank und zu ungezügelter Aggression neigte, züchtigte damals Marianne und ihren Bruder Hans ungezählt und machte ihnen mit seinem Sadismus die Kindheit schwer. Das Grauen arbeitet immer noch in ihr.
Kerstin Preiwuß erzählt von schlimmen innerfamiliären Störungen und Zerstörungen und geht zu Beginn des Buches in der Familie weit zurück. Man erfährt, dass der Vater ebenfalls unter belastenden Bedingungen aufgewachsen ist und ihm unangenehme Erinnerungen zusetzen. 
Die Kapitel wechseln zwischen Rückblenden und Gegenwart. In der Vergangenheit ist Marianne in die dritte Person gesetzt, im Hier und Jetzt ist sie die Icherzählerin.

... ein Zitat

"Es kümmert sie kaum, was unten geschieht, sie will nur, dass es zu Ende ist. Wichtig ist allein, sich die Ohren gut zuzuhalten. Marianne presst ihre Hände auf die Ohren, bis diese ganz verknautschen. Schließlich liegt nichts mehr in der Luft als Stille, doch sie lässt ihre Ohren nicht los. Sie scheint ihr Gedächtnis verloren zu haben, bei all dem Geschrei, was geschehen war, ist ihr egal, Hauptsache, es ist vorbei. Den restlichen Tag bleibt sie, wo sie ist, und geht ohne Abendbrot ins Bett. Nachts wacht sie auf. Hans ist wieder da. Sie schleicht zum Bett, um seinen Atem zu hören, und fasst, weil der stoßweise geht, in sein Gesicht. Das ist heiß und geschwollen, selbst im Schlaf zuckt er zurück."

... die Sprache

Sie scheint mir leise, sie dämpft das Ungeheuerliche ab, als wollte sie nicht zulassen, dass es laut und hart hereinbricht. Die Sprache ist nicht brutal, obwohl die Vorgänge es sind. Machmal klingt sogar Poesie mit. Sprachlich ungewöhnlich sind die Dialoge. Sie sind in die Seiten eingeschoben und von kurzen, knappen Sätzen. Prägnant und sehr aussagekräftig.

... das bewegte Herz

Kaum eine Seite in diesem Buch, die nicht bewegt. Aber am härtesten ist wohl das, was in die Jetztzeit reicht. Auswirkungen für das ganze Leben. Gebranntes Kind.

... der Buchtitel

Ich hätte mir gewünscht, er möchte sagen, da sei eine Restwärme für Marianne geblieben ... aber in der Geothermie gilt Restwärme als eine Folge von Aufschlägen großer Kollisionsblöcke auf die Erde zu Zeiten ihrer Entstehung ...

Fazit: großartig, wie sie das Thema angeht und verarbeitet. Mancher Autor hätte ein Horrorszenario aus dem Stoff gemacht. Sie aber lässt den Leser erschaudern ohne reißerisch unangenehm zu werden.

Dienstag, 17. Februar 2015

"Nurejews Hund oder Was Sehnsucht vermag" von Elke Heidenreich

" Oblomows Nase zitterte, seine Flanken bebten."



Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Achteinhalb Jahre lebt Oblomow, der ungelenke, schwerfällige Hund bei Nurejew, dem elegant- leichtfüßigen berühmten Tänzer. Eine Gemeinschaft, die zunächst für beide befremdlich ist, aber Oblomow weicht ihm nicht von der Seite. Bei jedem Training im Ballettsaal ruht er auf seinem Brokatkissen, spürt die Vibration des Bodens und den Rhythmus des Klaviers. Seine Augen folgen dem Tanz Nurejews und mehr und mehr ahnt er die große Kunst, die dahintersteckt. Die Schwerelosigkeit mutet ihn an wie ein Wunder. Als Nurejew stirbt, ist Oblomow untröstlich. Olga, eine Ballerina nimmt ihn zu sich und kümmert sich liebevoll um ihn. 
Eines Nachts, als Oblomow mal wieder nicht schlafen kann, überrascht er sich selber auf dem Balkon mit ein paar kleinen Tanzschritten, denen Nurejews nachempfunden. Es folgen weitere eifrige Versuche. Olga beobachtet ihn heimlich, ist gerührt und nimmt ihn mit zum Friedhof, wo sie ihn bittet, an Nurejews Grab zu tanzen. 
Als Oblomow stirbt, bestattet sie ihn zu Füßen Nurejews.

Geschaffen wurde diese Figur des "Oblomow" ursprünglich von Iwan A. Gontscharow in seinem gleichnamigen Roman. Elke Heidenreich greift sie auf und und komponiert eine wahrhaft zu Herzen gehende Erzählung. Tolle Idee und superschöne Umsetzung.

... das bewegte Herz

"Was Sehnsucht vermag" .... das sagt schon alles. 
Eine außergewöhnliche Liebe, die Oblomow über sich hinauswachsen lässt. 
Nachempfunden dem Helden im erwähnten russischen Roman. Die Parallele entzückt!

... ein Zitat

" Und wirklich, gegen vier Uhr, als es bereits hell wurde und die ersten Vögel zwitscherten, stand das große, unförmige Tier draußen am Balkongitter und übte eine arabesque mit weit zurückgestrecktem, linkem Hinterbein. Olga Piroshkowa nahm vorsichtig den Photoapparat und schaute durch die Linse. In diesem Moment drehte der Hund sich um und sah sie mit einem traurigen Ausdruck an, dass sie das Gefühl hatte, ihn verraten zu haben wie Orpheus seine Eurydike ...
In den nächsten Tagen gingen beide äußerst vorsichtig miteinander um, die alternde Ballerina und der Hund des weltberühmten toten Tänzers."

... die Sprache

Die Autorin hat ein Bilderbuch für Erwachsene geschrieben. Doch ist es sprachlich einfach gehalten, so dass auch Kinder es verstehen können. Wenn Nurejews Tanz beschrieben wird, sind die original französischen Wörter für seine Schritte und Figuren erwähnt, aber man kann darüber hinweglesen.

Wunderbar passend dazu die Zeichnungen von Michael Sowa.
Lesen. Unbedingt!









Montag, 16. Februar 2015

"Oblomow" von Iwan Gontscharow

"Oblomow versank in beschauliches Schweigen und blickte versonnen vor sich hin."




Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Als Nachkomme adliger Gutsbesitzer hat Oblomow alle Möglichkeiten, doch Trägheit und Unentschlossenheit betten ihn auf seinem Diwan zu Hause und lassen ihn "schläfrig-versonnen" vor sich hin dösen. Weder schafft er es, einer Amtsarbeit nachzugehen, noch sich um sein Gut zu kümmern. Gerne denkt er an seine Kindheit zurück, in der ihm von seiner Mutter alles abgenommen wurde und in der er fasziniert den Märchenerzählungen seiner  Kinderfrau lauschte.     
Ein "Wonnetraum breitete seine weiten Fittiche aus." Damals schon. Und Oblomow träumt weiter ...
Als er Olga kennenlernt, erwacht er aus seiner Lethargie, denn er fühlt zum ersten Mal leidenschaftliche Liebe und diese ist ihm die Anstrengung wert, das Nichtstun hinter sich zu lassen, sich um sein Gut zu kümmern und eine Zukunft zu zweit zu entwerfen. Leider bleibt es bei dem Entwurf, denn Oblomow wünschte wohl die Liebe und das Glück, aber am besten "ohne ihre Aufregungen zu spüren". Er zieht sich mit zahlreichen Ausflüchten zurück in seine Trägheit und Bequemlichkeit. Auch sein Freund Andrej Stolz, der ganz anders als Oblomow aktiv und erfolgreich am Leben teilnimmt, vermag ihn nicht mehr zu retten. 
Das Ende kann man fast erahnen, aber der kleine Andrjuscha stellt dann doch eine Überraschung dar ...

... ein Zitat

" Schon war er dreißig Jahre alt, war aber noch auf keinem Gebiet auch nur um einen Schritt weitergerückt und stand noch immer an der Schwelle eben dort, wo er auch vor zehn Jahren gestanden hatte. Doch nahm er sich immer wieder vor und rüstete sich, mit dem Leben zu beginnen. Immer auf's Neue malte er sich im Geiste die Arabesken seiner Zukunft aus; aber mit jedem Jahr, das über seinem Haupte entschwand, musste er irgendwas an diesem Rankenwerk ändern und abstreichen."

... das bewegte Herz

Die unbedingte Sympathie, die man Oblomow sogleich entgegenbringt. Gontscharow wartet mit einer Meisterstudie auf, hat mit psychologischem Feinsinn einen liebenswerten und gutmütigen Protagonisten entworfen, der sich ins Leserherz schleicht. 

... die Sprache

Sie bedient sich des Füllhorns der russischen Sprache, beeindruckt mit ihrer Ausführlichkeit und Eleganz. Sie fließt, ist gut zu lesen und bilderreich. 

Fazit: ein Stück Weltliteratur, das ich jedem empfehle! Der Begriff der "Oblomowerei" hat sogar Einzug in den allgemeinen Sprachgebrauch gehalten.
Und steckt nicht ein bisschen Oblomow in uns allen?


Donnerstag, 12. Februar 2015

"Kindeswohl" von Ian McEwan

"Nach meiner Meinung ist sein Leben wertvoller als seine Würde."




Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Fiona Maye ist Familienrichterin am High Court in London und hat es zu einem gewissen Ansehen gebracht. In vielen gewichtigen Fällen hat sie schon entschieden und auch der neue Fall verspricht Publicity. Adam Henry, ein siebzehnjähriger Junge, erzogen im Glauben der Zeugen Jehovas, verweigert eine Bluttransfusion, die dringend angebracht wäre, da er an Leukämie erkrankt ist. Da Fiona nicht sicher ist, ob dies die Überzeugung des Jungen oder vielleicht nur die seiner Eltern ist, besucht sie David im Krankenhaus. Adam rührt sie. Zum einen wirkt er in seiner Meinungsäußerung sehr stark und gefestigt, zum anderen spürt Fiona aber "Unschuld" und "Zartheit". Adam schreibt Gedichte und spielt Geige und Fiona ist von sich selber überrascht, als sie Adam anbietet, im Krankenzimmer zu einem seiner Geigenstücke zu singen.
Zurück im Gericht verfügt sie, dass die Klinik Adam gegen seinen Willen und den der Eltern Bluttransfusionen verabreichen darf.
Adam gesundet und nimmt Kontakt zu ihr auf, den sie jedoch nicht zulassen möchte und ihm aus diesem Grunde ausweicht. Als es doch zu einem Wiedersehen kommt, lässt dieses beide ungemein verwirrt zurück.
Die Geschichte erfährt eine tragische Wendung.
Neben dem Schauplatz Gericht gibt es auch noch Fionas Privatleben. In ihrer Ehe kriselt es, seit Jack, ihr Mann gestanden hat, regelmäßig eine jüngere Geliebte zu treffen und Fiona bittet, das zu tolerieren.
Fiona ist es durch ihren Beruf gewohnt, sehr rational und sachlich zu entscheiden. Emotionen haben in ihrem Leben keinen Platz. Es ist genial, wie McEwan seine Protagonistin skizziert, aber so wie diese zu ihren Gefühlen auf Distanz geht, so hat auch der Leser Probleme, ihr nahe zu kommen. 
Der Autor hat eine Geschichte konstruiert, deren Präzision und konzentrierte Stille beeindrucken.
Muss man Fiona lieben? Wahrscheinlich nicht.

... das bewegte Herz

... galt Adam, dem man den Glauben an seine Religion genommen hat und der auf der Suche nach neuem Halt ist.

... ein Zitat

"Sie trat ein, alle erhoben sich, sie nahm Platz und wartete, bis die Parteien im Saal unten sich gesetzt hatten. Vor ihr lag ein dünner Stoß Papier, neben den sie ihren Federhalter legte. Erst dann beim Anblick dieser cremeweißen, sauberen Bögen, verschwanden die letzten Spuren, der Makel ihrer eigenen Situation vollständig aus ihrem Bewusstsein. Sie hatte kein Privatleben mehr, sie war bereit, sich vereinnahmen zu lassen."

... die Sprache

Ian McEwan ist ein gekonnter und intelligenter Stilist. Ich habe Freude an seinen Formulierungen und liebe den Ton seiner gewandten Prosa.

Fazit: Lesen!




Samstag, 7. Februar 2015

"In den Wind geflüstert" von Gudmundur Andri Thorsson

"Wenn der Wind blies, war er voller Verheißungen."




Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Sie nimmt uns mit in ein kleines isländisches Fischerdorf zur Mittsommerzeit. Am Abend findet ein Chorkonzert statt, an dem viele der Bewohner teilnehmen werden. Kata, ein junges Mädchen, wird es dirigieren und befindet sich mit dem Fahrrad auf dem Weg zum Gemeindehaus. In diesen Minuten zieht sie mit ihrem blaugepunkteten Kleid an vielen Häusern vorbei und die Kapitel breiten das Leben der Einwohner aus, die in ihnen leben und lieben. Wir lernen sie kennen, ihre Erinnerungen und Sehnsüchte, ihre Verzweiflungen und Wünsche.

... das bewegte Herz

Die Schicksale berühren nicht alle gleich tief. Aber die Atmosphäre alleine bezaubert.

... ein Zitat

"Sie sitzt ihm gegenüber und schaut aus dem Fenster. Sie haben sich dreißig Jahre lang nicht gesehen, seit sie ins Ausland ging und ihn mit der Abwesenheit im Arm und all den Worten, die sie ihm geschenkt hatte, zurückließ. Sie kam nicht mehr wieder und begnügte sich damit, ihm Briefe zu schreiben- so liebevolle Briefe. Nun sitzt sie hier bei ihm in der Küche, und wieder ist es so, als sei die Kommode in der Ecke nur deshalb blau, weil ihre Augen blau sind. Wieder ist es so, als nähme die Küche durch ihre Anwesenheit Gestalt an, würde hell durch ihr Lächeln. Sie hat ein Bein auf den Stuhl hochgezogen, wie früher manchmal, und schaut zu Chor-Kata, die draußen vorbeiradelt."

... die Sprache

Sie klingt, sie flüstert, sie ist hochpoetisch und zärtlich. 

Fazit: Lesen um in den Genuss der Sprache zu kommen!




"Der Junge im gestreiften Pyjama" von John Boyne

"...seit seiner Ankunft in Aus-Wisch ..."




Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Bruno lebt mit seinen Eltern und seiner Schwester Gretel in Berlin. Er ist neun Jahre alt, aufgeweckt und wissbegierig. Was er nicht versteht, versucht er zu erforschen. Wir haben das Jahr 1943, als die ganze Familie umziehen muss, denn der Vater wird zum Kommandanten des Konzentrationslagers Ausschwitz ernannt. Bruno weiß, dass das eine ganz besondere Aufgabe ist und begegnet seinem Vater mit sehr viel Respekt. Keine Ruhe gibt ihm das neue Umfeld: wenn er aus dem Fenster schaut, erblickt er viele Menschen hinter einem Stacheldrahtzaun, alle gleich gekleidet ...
Die Umstände kann er zunächst nicht in Erfahrung bringen, denn seine Eltern sind sehr beschäftigt. So schafft sich Bruno mit Hilfe seiner kindlichen Phantasie eine eigene Sichtweise und legt sich Erklärungsmöglichkeiten zurecht.
Als Bruno am Zaun zum Konzentrationslager Schmuel kennenlernt und die beiden sich anfreunden, nimmt das Buch einen unerwarteten Verlauf. Der Leser wird am Ende sehr nachdenklich zurückgelassen.

... das bewegte Herz

Das ganze Buch bewegt, denn über all die Seiten rührt einen die Naivität des kleinen Bruno. Man schmunzelt und gleichzeitig spürt man einen Kloß im Hals. Bruno ist so unwissend und unschuldig und man verfolgt sehr aufgewühlt, wie dieser kleine Junge den Dingen auf den Grund geht.
John Boyne hat ein meisterliches Buch geschrieben. Die Herangehensweise an dieses schwere Thema ist außergewöhnlich doch sehr gelungen. Und keines Falls verharmlosend, so wie einige Kritiker meinen.

... ein Zitat

"Der Junge war kleiner als Bruno und saß mit verlorenem Gesichtsausdruck auf dem Boden. Er trug den gleichen gestreiften Anzug, den alle Leute auf jeder Seite des Zauns tragen, und eine gestreifte Stoffmütze auf dem Kopf. Er hatte weder Schuhe noch Socken an, und seine Füße waren ziemlich schmutzig. Über dem Ellbogen trug er eine Armbinde mit einem Stern darauf ...
"Darf ich dich etwas fragen?" ...
"Ja", sagte Schmuel.
Bruno überlegte. Er wollte die Frage möglichst richtig formulieren.
"Warum sind auf deiner Zaunseite so viele Leute", fragte er. "Und was macht ihr da alle?"

... die Sprache

Sie ist die eines Kindes, also in einfachen Gedankengängen und Sätzen. Aber es steckt viel Spitzfindigkeit und Doppeldeutigkeit drin. Geistreich und beispiellos.


Fazit: sehr empfehlenswert!





"Am Anfang war das Meer" von Tomás González

"Manchmal krochen Eidechsen über die Buchrücken ..."




Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Die Protagonisten J. und seine Freundin Elena möchten das geschäftige Bogota hinter sich lassen und an einem abgelegenen Küstenstreifen in Kolumbien als Aussteiger neu anfangen. Sie stellen sich ein Selbstversorgerleben im karibischen Paradies vor. Zu Beginn noch sehr enthusiastisch richten sie ein heruntergekommenes Haus her und tätigen Anpflanzungen. Als sie davon nicht leben können, versucht es J. nacheinander mit einer kleinen Viehwirtschaft, mit Holzabbau und einem kleinen Laden.
Der Buchtitel besagt es schon: das neue Leben beginnt mit dem zauberhaften Meer, das Romantik und betörende Zweisamkeit verspricht ... aber das Leben in der dortigen Dorfgemeinschaft verlangt ein gewisses Miteinander. Daran scheitern letztendlich beide. Die Probleme eskalieren und beide stehen vor den Trümmern ihres Traumes. Das Buch endet nicht nur traurig, sondern gar dramatisch.
Diese Entwicklung zeichnet sich ziemlich schnell ab, denn leise Untertöne lassen den Leser aufhorchen. Dem Autoren gelingt hier ein beeindruckendes Aussteigerpsychogramm. Er schafft eine Atmosphäre, in die ich als Leserin geradezu reingekrochen bin, so nah hat er sie mir gebracht.

... das bewegte Herz

Wie die Hoffnungslosigkeit nach und nach einzieht ...

... ein Zitat

"Zwei weitere Monate verstrichen, Briefe gingen hin und her- wenn auch immer seltener- und J. versank in einem lethargischen, einer Lähmung gleichenden Zustand, in dem er nicht wusste, ob er weggehen oder bleiben sollte, und wenn er wegginge, wohin, und wenn er bliebe, wozu. Er glaubt nicht mehr daran, dass sein Ausharren hier einen Sinn hatte, und so versuchte er seine Anwesenheit mit der Schönheit zu erklären, der er ansichtig wurde, wenn er den Blick über das Meer streifen ließ: die Möwen, die roten Sonnenuntergänge, das Segelschiff, das weit draußen kreuzte.!

... die Sprache

Sehr sinnlich und ausdrucksstark.


Fazit: Lesen!


"Claraboia oder Wo das Licht einfällt" von José Saramago

" Die Zeit verstrich mit dem gleichen seidigen Geräusch wie Sand im Stundenglas."



Es bleibt in Erinnerung ...


... die Story

Ein bisher nicht veröffentlichtes Frühwerk von José Saramago. Vor uns haben wir ein Mietshaus in Lissabon und wir Leser dürfen sozusagen durch die Fenster ins Innere blicken und miterleben, welch kleine Dramen sich dort abspielen. Die Menschen in den Wohnungen leben ihren Alltag, könnten so sein wie jedermann, aber gerade das sind sie nicht. Josè Saramago ersinnt ganz besondere Wohngemeinschaften, gibt ihnen Stimmen, die von Glück und Ängsten sprechen und sie versuchen Geheimnisse zu wahren oder sich bewusst mitzuteilen. In Erinnerung ist mir besonders der Schuster Silvestre geblieben, der mit seinem Untermieter Abel über das Leben philosophiert.

... das bewegte Herz

Die stillen Nöte der Bewohner. Wie wir in ihre Seele blicken dürfen.

... ein Zitat

"Er wusste, was er draußen zu sehen bekommen würde: schlendernde oder hastende, interessierte oder gleichgültige Menschen. Dunkle Häuser, beleuchtete Häuser. Den egoistischen Lauf des Lebens, die Gier, die Furcht, die Sehnsucht, die Aufforderung der Frau, die an ihm vorübergeht, die Erwartung, den Hunger, den Luxus- und die Nacht, die allem die Maske abnimmt und das wahre Antlitz des Menschen zeigt. Er fasste einen Entschluss. Er wollte mit Silvestre plaudern, mit seinem Freund Silvestre. Er wusste , der Zeitpunkt war nicht günstig, der Schuster war mit einer dringenden Arbeit beschäftigt, aber selbst wenn er sich nicht mit ihm unterhalten konnte, wäre er zumindest in seiner Nähe und würde seine geschickten Handgriffe beobachten können, seinen ruhigen Blick spüren."

... die Sprache

Eher schlicht und unaufgeregt. José Saramago in seinen Anfängen  Aber man spürt schon die Potenz des großen Autoren.

Fazit: nur lesen, um des Buches willen, nicht um einen typischen Saramago zu erfahren. Aber es lohnt!