Samstag, 25. November 2017

Gelesen.




Ich verneige mich.
Bin beeindruckt.

"Museum der Erinnerung" von Anna Stothard



"Sie fand, die Schönheit von Museen, genau wie die von Landkarten und die zwischenmenschlicher Beziehungen, lag ebenso sehr in der Distanz wie in der Nähe."


Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Cathy arbeitet zusammen mit ihrem Freund Tom im Berliner Naturkundemuseum. Während im Museum die Zweihundertjahrfeier anläuft, bekommt Cathy Besuch von einem alten Freund und es ist, als würde sie von ihrer Vergangenheit eingeholt. Daniel und sie waren Jahre zuvor ein Paar. Nun scheint Daniel sich für etwas rächen zu wollen und die Geschehnisse spitzen sich zu. Cathys Erinnerungen wandern zurück nach Essex in einen kleinen Küstenort und der Leser erfährt nach und nach, was sich damals am Strand abgespielt hat. Von Jack, Daniels kleinem Bruder, ist die Rede und von einem tragischen Unfall. Ebenfalls von Gewalt, die Daniel ihr angetan haben soll.
Die Szenerie wechselt nun immer zwischen Berlin und Essex und Anna Stothard brilliert hier mit einem Spiel von Spannung und Erwartung.

... ein Zitat

"Cathy wollte als Kind immer wissen, wie alles funktioniert: Auf welche Weise sich ein Vogelflügel auffächerte und wie das Herz eines großen Fuchses aussah; warum Augäpfel nicht herausfielen und woraus Schmetterlingsflügel bestanden. An dem Tag, an dem sie Daniel und seinen Bruder Jack das erste Mal traf, hatte sie gerade eine tote Dohle gefunden, die im Matsch eingefroren war. Sie lag zwischen gefrorenem Seetang und schleimigem Tau unter der schimmeligen Verkleidung des Strandhauses nebenan, in dem die Luft nach Methan und Verrottung stank. Sie hob den Kadaver mit einer Schaufel auf und legte ihn ins Licht, um das gefrorene Blut in den Nasalborsten zu betrachten. Das Tier war kalt, und sein Kopf war stolz nach oben gebogen."

... was mich bewegt hat

Cathy hat mich sehr bewegt, ihre Sammelleidenschaft im Kindesalter und ihr Versuch als Erwachsene, die Vergangenheit in Form der Objekte einfach wegzuschließen und nicht mehr an sich ran zu lassen. Bis Daniel zurück in ihr Leben schleicht ...
Überraschenderweise hat auch Daniel mich bewegt. Erinnerte ich mich eben noch an seine "weißglühende Wut", erfahre ich ihn urplötzlich als nachdenkliche Seele.
Anna Stothard gelingt das meisterlich.

... die Sprache

Sehr versiert und ausformuliert und sie passt gut zum geordneten Schauplatz Museum. Anna Stothard liebt es ins Detail zu gehen und schafft dabei Atmosphäre. Dafür muss sich der Leser aber Zeit nehmen. 

... ein Fazit

Schöne Schauplätze, ausgeprägte Figuren, eine interessante Sprache und ein gutes Maß an Spannnung. Lesen!



"Die Moselreise" von Hanns-Josef Ortheil


"Die Ufer spiegeln sich in der Mosel, dort zerfließen die Farben wie Wasserfarben auf meinen Schulbildern."


Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Auf einer fast zweiwöchigen Wanderung 1963 mit seinem Vater entlang der Mosel von Koblenz nach Trier führt der elfjährige Hanns-Josef eine Art Reisetagebuch. Das Notieren und Protokollieren von Erlebtem gibt dem Jungen ein Gefühl der Sicherheit, denn er befürchtet, die Sprache könnte ihm ansonsten wieder abhanden kommen. Mit erst sieben Jahren hatte er sie erlernt, da er mit einer stummen Mutter aufwuchs. Danach erlebte er Worte als etwas Magisches und Faszinierendes, etwas, das ihn aufblühen ließ.
Der Vater unterstützt ihn in seinen Bemühungen, gibt ihm Zeit für die täglichen Notate und vor allem schafft er mit der Reise einen neuen Erlebnisraum für den Jungen, der geradezu dazu einlädt, intensiv erfahren und festgehalten zu werden. Hanns-Josef ist ein wissbegieriges Kind und der Vater vermittelt ihm viel Wissenswertes, macht aufmerksam, erklärt und beobachtet zusammen mit ihm Land und Leute. Auf "bleibende Erinnerungen" kommt es an und dafür muss man "genau hinschauen". So lehrt er das Kind.
Nach fast fünfzig Jahren wiederholt der erwachsene Hanns-Josef Ortheil in Gedenken an seinen Vaters diese Wanderung entlang der Mosel.
Es entsteht eine Art Hommage an den Vater, der ihm damals viel Zeit und Zuwendung geschenkt hatte.

... ein Zitat

"Dass die Moselreise aber mehr war als nur eine schlichte Reiseerzählung, das ahnte ich als Kind nicht. Ich war stolz, so viel wie möglich von den Erlebnissen, Gesprächen und Orten der Reise festgehalten zu haben, aber ich wusste nicht, dass für einen erfahrenen Leser hinter der dokumentarischen Folie der Erzählung noch eine ganz andere Erzählung sichtbar wurde. Ich meine die Erzählung von Vater und Sohn, ja ich meine die Erzählung von ihrer engen Zusammengehörigkeit und von ihrer gegenseitigen starken Liebe und Achtung."

... was mich bewegt hat

Die intensive Vater-Sohn-Beziehung. Alles natürlich aus Sicht des Sohnes, aber die Hinwendung des Vaters ist wirklich berührend.
Im Abspann des Buches fasst Hanns-Josef Ortheil nochmal zusammen, wie immens bedeutungsvoll und unvergessen für ihn diese Moselreise mit dem Vater gewesen ist.

... die Sprache

Da viele Originalnotierungen des jungen Ortheil mit einfließen, ist es eine eher einfache Kindersprache, die die Seiten füllt. In der Vor- und Nachbetrachtung  aber spricht der erwachsene Autor und fügt das Buch zu einem harmonischen Ganzen.

... ein Fazit

Wer "Die Erfindung des Lebens" vom Autoren gerne gelesen hat, wird auch dieses Buch mögen. Der junge Hanns-Josef entwickelt sich weiter und es ist ganz wunderbar, das verfolgen zu dürfen.