Sonntag, 28. Dezember 2014

"Ein fabelhafter Lügner" von Susann Pásztor

"Wir sind eine Familie von Geschichtenerzählern ..."




Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Es ist ein Buch über Familie und Identität, es geht gar nicht mal vorrangig um die Problematik Holocaust. Der Autorin gelingt es aber sehr gut, beides in diesem Roman zu verweben. Der leichte Ton überwiegt und vielleicht ist es gerade das Schwerelose, das gefällt.
Erzählt wird aus Sicht der sechzehnjährigen Lily, die zusammen mit ihrer Mutter zu einem außergewöhnlichen Familientreffen fährt. Lilys Großvater Józsej Mólnar hätte seinen 100. Geburtstag gefeiert. Seine verbliebenen Kinder möchten diesen zusammen begehen und nutzen das Treffen, um ihn aufleben zu lassen, diesen fabelhaften Lügner ....
Joschi, wie er genannt wird, genoss es fantasievolle Geschichten zu erzählen, so dass seine drei Kinder sich ihr Leben lang fragen mussten, wie groß der Anteil an Wahrheit wohl gewesen ist. Fest steht, dass sie alle eine andere Mutter haben und dass Joschis zweite Frau zusammen mit zwei seiner Kinder im Konzentrationslager Buchenwald umgekommen sind. Joschi selber soll dort auch interniert gewesen sein.
Das ist der Anlass, warum seine Kinder (inzwischen im Erwachsenenalter) zusammen mit Lily das Konzentrationslager aufsuchen und in gedrückter Stimmung das Gelände und die Ausstellung besichtigen.
Des Nachts kehren sie nochmal zurück und lassen neben der Gedenkstätte zehn Laternen in den Himmel steigen. Die Szene berührt, ist aber doch so tragikomisch geschildert, dass man als Leser sogar amüsiert zurück bleibt.

... das bewegte Herz

Als die drei Kinder Joschis sich einander annähern, jeder was vom Vater zu erzählen weiß und dieses Puzzle sie verbindet. Wie es ihnen gelingt, aus dem Lügner und Betrüger einen charmanten, liebenswerten Mann werden zu lassen. Die Vergangenheit wirft gewissermaßen ein schmeichelndes Licht.
Und die Szene des Nachts, als die Laternen in den Himmel gelassen werden. Sie hat mich ebenfalls sehr bewegt.

... ein Zitat

"Aber dafür bin ich etwas anderes losgeworden, sagte Hannah, und auf einmal sah ihr Gesicht verändert aus, viel weicher und verletzlicher als sonst. "Nämlich die ganzen Geister, die ich mein Leben lang mit mir herumgetragen habe. Ich habe sie heute Nacht davonfliegen sehen, einen nach dem anderen. Es waren mehr als zehn das könnt ihr mir glauben ... Es waren nicht nur die Geister aus meinem privaten Familienalbum, sonder auch die Geister aus meinen Fotobänden und die Geister aus meinem Kopf. Ich habe mich von ihnen verabschiedet und sie ziehen lassen."

... die Sprache

Flott, mit Sprachwitz, unterhaltend, gut zu lesen. Leichtfüßig, trotz der Schwere des Themas. Doch nicht trivial, wie einige Stimmen behaupten.



Samstag, 27. Dezember 2014

"Das Leben ist etwas Schimmerndes ..."

"Der Wintergast" von Elisabeth Binder



Es bleibt in Erinnerung ...


... die Story

Der gestrauchelte Künstler Andreas kommt für vier Monate in ein kleines italienisches Bergdorf, um dort in einer Vogelauffangstation zu helfen. Das Leben hat ihn verletzt, genau wie den Adler, der im Palazzo gesund gepflegt wird. Es gibt keine ausschweifende Handlung in dem Roman, vielmehr lernt man nach und nach einige Dorfbewohner kennen und erfährt deren Gedanken und Nöte. Das Ganze wirkt wie ein Mehrakter, in dem verschiedene Schauspieler sich auf einer Bühne begegnen und wieder auseinander gehen. Die "Berührungen" sind eher flüchtig. Es wirkt recht konstruiert, bietet aber doch ein harmonisches Ganzes. Andreas macht in den vier Monaten eine Entwicklung durch, gesundet gewissermaßen und besinnt sich wieder auf seine Künstlerseele. Zum Ende des Romans steigt Andreas ins Postauto und fährt zurück nach Hause.

... das bewegte Herz

Andreas' Begegnung mit dem Adler und wie er dadurch zur Kunst zurückfindet. Die Wahrnehmung der Natur als Muse und Lebenselixier.

... ein Zitat

" Denn sie wollte ja noch ein wenig leben. Weiterleben.Wozu? Keine Ahnung. Einfach leben. Im Licht. Mit dem Wasser, den Steinen, den Flechten, dem Gras, den kahlen Bäumen, den Dohlen hoch oben, die die Felsen entlang streichen. Jetzt, wo der Frühling wieder kommt."

... die Sprache

Eigenwillig. Die Autorin setzt auffällig viele Klammern. Diese stören mich im Lesefluss. 
Ausgeprägte Symbolik. 
Die Poesie ist nicht immer ganz gelungen (wirkt schon mal etwas aufgesetzt). Aber im Ganzen ansprechend. 




"Die glücklichen Tage" von Laurent Graff

"Ich habe versucht, ins Innere der Dinge zu schauen ..."




Es bleibt in Erinnerung ...


... die Story

Antoine beschließt mit achtzehn Jahren, sich eine Grabstelle zu kaufen. Seine Intention ist, sich schon früh mit dem Tod zu beschäftigen, da das Leben sowieso keine andere Perspektive als die des heraneilenden Endes bietet. Antoine entwirft sogar Inschriften für seine Grabplatte, gibt sie in Auftrag und hortet die Entwürfe zu Hause. Sie reichen von schwarzem Humor bis hin zu echter Lebensverachtung.
Zunächst versucht er ein "normales" Leben zu führen, heiratet und bekommt zwei Kinder. Mit fünfunddreißig verlässt er nach einer Erbschaft seine Familie und zieht in die Seniorenresidenz "Glück im Winkel". Dort möchte er sich gewissermaßen zum Tod hin treiben lassen und verbringt die Zeit damit, die alten Menschen zu beobachten und über die Vergänglichkeit zu grübeln.
Eines Tages kommt die krebskranke Mireille ins Heim und Antoine beschließt, sie bis zu ihrem Tod zu begleiten. Als Mireille den Wunsch äußert, nochmal ans Meer zu fahren, macht Antoine sich mit ihr auf den Weg.
Antoine ist recht schwermütig, aber dem Autoren gelingt ein burlesker Ton. Der rückt den Protagonisten in ein zuweilen recht witziges Licht.

... das bewegte Herz

Sein morbider Blick auf's Leben.
Und als Mireille sich am Meer an ihn klammert.

... ein Zitat

" Ich habe Bänke immer geliebt. Sie sind das Sinnbild des Rückzugs, der richtige Platz, um Abstand zu gewinnen, um eine friedliche Randexistenz zu führen. Sie bilden einen privilegierten Beobachtungsposten, einen bequemen Zufluchtsort, und für diejenigen, die ihn zu nutzen wissen, einen Freiraum am Wegrand. Ich habe viele Stunden auf Bänken verbracht und dort über die Welt nachgedacht."

... die Sprache

Sehr ansprechend. Lakonisch. Der Stil ähnelt ein wenig dem Genazinos.


Dienstag, 16. Dezember 2014

"Den Oridongo hinauf" von Ingvar Ambjornsen

"... alles liegt ein wenig jenseits der Worte."





Es bleibt in Erinnerung ...


... die Story

Erzählt wird die Geschichte von Ulf, der fünfzigjährig von Oslo zu seiner Brieffreundin Berit nach Norwegen ans Meer zieht. Zunächst ist der Leser verwirrt, denn er erfährt auch, dass Ulf eine Reise "den Oridongo hinauf" unternommen hat. Doch man versteht: es ist nur ein Bild. Ulf hat Schlimmes durchgemacht, ein beschwerlicher Weg den schwarzen Strom hinauf, durch dichten Dschungel, Einsamkeit, Fieber, Unverträglichkeit, Melancholie ...
Berit nimmt Ulf bei sich auf, schenkt ihm Liebe und Vertrauen. Beide arrangieren sich auf liebevolle Weise, Ulf weint oft "vor Dankbarkeit".
Als ein Zwölfjähriger Junge im Dorf verschwindet und verwirrt wieder auftaucht, ist es Ulf, der Zugang zu ihm findet. Die beiden ähneln sich, neigen zum Einzelgängertum und zum Verstummen, sobald Probleme nicht bewältigt werden können. Ulf erkennt sich in dem Jungen wieder und muss sich nochmal seiner Vergangenheit stellen.

... das bewegte Herz

Ulf bewegt, sein Ankommen und Bleibenwollen, seine Verbundenheit mit Norwegen und seine zarte, behutsame Liebe zu Berit. Und die quälende Vergangenheit, die er eigentlich hinter sich gelassen hat, die aber immer wieder in die Gegenwart reinreicht.

... ein Zitat

"Und alles schmeckt hier draußen und hier oben viel stärker, Käse, Brot, Wurst und Kaffee, vermischt mit der Luft von Meer und Gebirge, und ich kaue und werde von dieser Natur überwältigt, die mich fast, aber nur fast, an einen milden Schöpfer glauben lässt, ein ästhetisches Genie, das mir bei allem hier wohlwill, dem blanken Meeresspiegel und den Tausenden von Inseln nach Norden und Süden, einer ganzen Welt aus Inseln, unbewohnten Felsen und Inseln mit vielleicht einem einzelnen Hof, vielleicht nur einem Bootsschuppen, oder glatten Steinen, wie Walrücken im Meer, wo der Kormoran sitzt und sich die Flügel trocknet ... und tief unter mir ... das kleine, weiß angestrichene Haus, das zu meinem Zuhause geworden ist."

... die Sprache

Sehr warme, zärtliche Sprache. Stark, wenn es um Stimmungen und das Beschreiben von Landschaft geht. Reich an Poesie.


Freitag, 12. Dezember 2014

"Der Distelfink" von Donna Tartt

"Wir können dem, was wir sind, nicht entrinnen."



Es bleibt in Erinnerung ...


... die Story

Es ist die Geschichte des Icherzählers Theodore Decker, der ohne Reisepass in einem Amsterdamer Hotel haust und vorerst nicht weiter weiß... So beginnt dieser seitenstarke Roman. Im Rückblick erfährt der Leser Theodors Geschichte, beginnend im Metropolitan Museum, das Theo dreizehnjährig mit seiner Mutter besucht und in dem letztere bei einem Bombenattentat ums Leben kommt. Aus den Trümmern birgt Theo den Distelfinken, das berühmte Gemälde von Fabritius. Diese Geschehnisse stellen sein Leben auf den Kopf. Zunächst wird er von der Familie eines Schulfreundes aufgenommen, später holt sein Vater ihn nach Las Vegas. Nach dem Tod des Vaters geht Theo zurück nach New York. Stets führt er gut versteckt den Distelfinken mit sich. In New York arbeitet Theo als Antiqitätenhändler, dient auch unlauteren Geschäften und bekommt sich und sein Leben oft nicht ohne Drogenkonsum in den Griff.
In Amsterdam kommt es nach fast tausend Seiten zu einem finalen Showdown im Verbrechermilieu. Für mich knickt das Buch an dieser Stelle etwas ein, aber Donna Tartt führt ihre Erzählung insofern wieder ans Licht, da sie Theo in dem Hotel innehalten und sein Leben im Rückblick betrachten lässt. Es ist überhaupt die Stärke der Autorin, alle Handlungen in einen großen philosophischen Rahmen zu spannen. Das Leben ist ihr eigentliches Thema, was macht die Zeit mit uns, was haben wir selber in der Hand? Es geht um Verlust, Obsession, Schicksal, die Kraft der Freundschaft, den Schmerz der Täuschung und um die Kunst als Angelpunkt.

... das bewegte Herz

Der Verlust der Mutter und seine sich anschließende Heimatlosigkeit. Wie Theo sich an Menschen heftet, die ihn erden können, allen voran Pippa, Hobie und Boris. Seine Suche nach Halt, Sinn und Liebe.

... ein Zitat

"Um die Welt überhaupt zu verstehen, konnte man sich manchmal nur auf einen winzigen Ausschnitt davon fokussieren und sehr angestrengt betrachten, was in der Nähe war, um es dann für das Ganze zu nehmen. Aber seit das Bild mir unter den Händen verschwunden war, fühlte ich mich wie ertrunken, ausgelöscht von der Unendlichkeit - nicht nur der erwartbaren Unendlichkeit von Zeit und Raum, sondern auch den unüberbrückbaren Distanzen zwischen zwei Menschen, die auf Armlänge voneinander entfernt waren ...
... und mein Bild war fortgerissen von dieser machtvollen Strömung und trieb irgendwo da draußen umher: ein winziges Fragment des Geistes, ein matter Funke, dümpelnd auf einem dunklen Meer."

... die Sprache

Von selten reichem Wortschatz, von schier unermüdlicher Lust zu erzählen.


Samstag, 22. November 2014

"Herkunft" von Botho Strauss

"Das Gedächtnis ist eine Variable der Sehnsucht ..."



Es bleibt in Erinnerung ...


... die Story

Wie ein "Schaufelsklave" wühlt der Autor in seinen "Gedächtnishalden", um die eigene Kindheit aufziehen zu lassen. Die elterliche Wohnung in Ems wird aufgelöst und aus zahlreichen Winkeln werden Gegenstände gezogen, die "Herkunft" bedeuten. Diese gewinnt nun an Gewicht, da alles in Auflösung ist. Botho Strauss erinnert sich des strengen korrekten Vaters und seiner Marotten, zollt ihm aber nach all den Jahren sehr viel Respekt und Dankbarkeit. 
Erinnerung bedeutet, dass man sich Versäumtem und Verlorenem stellt. Als Heranwachsender gibt man sich oft sperrig, nimmt die Eltern eingeschränkt wahr, empfindet sie als veraltet, geht dem Vater, der einem "aufrecht und unzeitgemäß" auf seinem täglichen Frühspaziergang entgegen kommt, sogar aus dem Weg. Noch als dieser stirbt, ist Botho Strauss "zum Vorwärtsblicken unterwegs", trauert nicht wirklich. 
Dieses Buch ist sowas wie eine Liebeserklärung an den Vater posthum. 
Weitere Gedankensplitter gelten der Schule, dem Lehrer, der Deutschlektüre, Theatervorstellungen und dem Spiel mit Freunden. Schwimmen in der Lahn, Murmelspielen, Stelzenlaufen. Jahre später erstes verschämtes Küssen.

... das bewegte Herz

Vor allem die Beziehung zum Vater bewegt. Gerne erinnert er sich der Hände des Vaters, die strafend sein konnten, aber die dem Jungen auch "die ersten Blumen gewiesen" haben "und die erste Zeile im Buch". Erst mit dem Abstand der Jahre öffnet sich das Gewesene als "Blüte Kindheit".

... ein Zitat

"Erst langsam bin ich dann hineingewachsen in deinen Tod und diesen umfassenden Sinn für Vermissen. Er wird der eherne Ring, der mein Bewusstsein erschloss. Wenn ich dich sehe in all deinem Tod, nur noch erschöpfte Seele und gutmütig, als hätte die Unterwelt dir den Verstand und die Bosheit geraubt. Du einzige Quelle meiner Erinnerung. Nie hätte ich mich irgendeines Geschehens erinnert ohne deine Schule der Erinnerung. Alles was war, wurde Gewesenes durch dich."

...die Sprache

Teils in einem etwas ältlichen Stil, der sich aber einschmiegt und gut passt. Eine ganz dichte, poetische Sprache mit Wortschöpfungen, die Freude bereiten. "Einstweh" und "verstehensmüde" habe ich gerne notiert.

Freitag, 21. November 2014

"Der Tänzer" von Colum McCann

"Bei ihm war es mehr eine Suche nach etwas jenseits des Tanzes, ein Sehnen nach dem, was den Menschen ausmachte."


Es bleibt in Erinnerung ...


... die Story

Dieses Werk greift sich den großen Tänzer Rudolf Nurejew und spinnt um dessen Karriere zauberhafte Begebnisse, die schließlich ein harmonisches Ganzes ergeben. Der Autor verwebt Biographisches mit seiner eigenen Phantasie und schafft einen mehr als bemerkenswerten Roman. McCann bedient sich verschiedener Perspektiven sowie Erzählstilen. Meistens wird aus der Warte von Menschen erzählt, die ihm nahe standen, da wären seine Schwester oder Julia, die Tochter von Rudiks alter Tanzlehrerin, später auch seine Haushälterin Odile. Kommt Rudik selber zu Wort, wechselt die Sprache zu kürzeren Einschüben, so als hätte er Tagebuch geschrieben.
All diese Elemente lassen ein Kaleidoskop an Eindrücken entstehen.

Während eines Auslandsauftritts in Paris nutzt Rudik die Gelegenheit sich abzusetzen und im Westen zu bleiben. Seine Familie leidet sehr darunter, muss Repressalien und Armut aushalten, während Rudik sich in Glanz und Extravaganz sonnt. Der Leser lernt einen ehrgeizigen jungen Mann kennen, der sich nicht nur Freunde macht. Egoismus, ausschweifend gelebte Homosexualität und eine gewisse Oberflächlichkeit werden ihm nachgesagt. Aber der Leser erfährt ihn auch als liebevollen Familienmenschen, vor allem am Ende des Romans, als er ein Visum für achtundvierzig Stunden erhält und nach Hause kommt.

... das bewegte Herz

Es sind in der Hauptsache die Nebendarsteller, die mich bewegen. Sie müssen in einem System ausharren, das Verfolgung und Armut bedeutet und sie schaffen sich Kleinode in ihrer Leben, die ihnen Halt geben.
Die Liebe zum Tanz (allen Widerständen zum Trotz) bewegt ebenfalls und der Besuch von Rudik, als es fast schon keine Hoffnung mehr gibt.

... ein Zitat

"... du siehst ihn ständig lesen, denn Puschkin hat ihm gesagt, dass er, wenn er ein großer Tänzer werden will, die großen Romane und Erzählungen kennen muss, und so sitzt er im Hof und beugt sich über Gogol, Joyce, Dostojewski; du siehst, wie er sich den Seiten entgegenbiegt ..."

... die Sprache

Sie fesselt, da sie mit dem Leser spielt. Es sind unterschiedliche Schwingungen spürbar je nach Perspektive. Aber nie geht die Poesie verloren und immer spürt der Leser eine Sprache, die ihn einnimmt und bewegt.


"Ich möchte lieber nicht."


"Bartleby, der Schreibgehilfe" von Hermann Melville



Es bleibt in Erinnerung ...


... die Story

Es ist die Geschichte eines Anwalts und seines Schreibers Bartleby, der mehr und mehr seine Arbeit verweigert. Das tut er stets ausgesprochen freundlich mit den Worten "Ich möchte lieber nicht." Der Anwalt ist zu Beginn noch sehr nachsichtig, sucht nach Erklärungen und Entschuldigungen, warum der seltsame Mitarbeiter sich zunehmend zurückzieht. Schließlich kommt es doch zur Kündigung, aber Bartleby verbleibt einfach in der Kanzlei. Der Anwalt beschließt umzuziehen. Später kommt ihm zu Ohr, dass der neue Besitzer ihn von der Polizei hat abholen lasse und Bartleby nun im Gefängnis einsitzt. Der Anwalt besucht ihn und erfährt, dass Bartleby auch dort alles verweigert. Er möchte lieber nicht essen ... und stirbt schließlich.

... das bewegte Herz

Die Not dieser beider Menschen. Der äußerst geduldige und liebenswürdige Anwalt, der eigentlich helfen möchte und Bartleby, sichtlich vereinsamt und verstört.

... ein Zitat

"Bartleby freundschaftlich behandeln, ihm in seiner seltsamen Eigenwilligkeit entgegenkommen, das würde mich wenig oder nichts kosten, wohingegen ich in meiner Seele einen Schatz aufhäufe, der sich zu guter Letzt als süßer Gewissenstrost erwiesen wird.- Jedoch herrschte diese Stimmung nicht ständig bei mir vor.

... die Sprache

Gut und leicht zu lesen. Und doch von sprachlicher Schönheit. Ein bemerkenswerter Klassiker.






Dienstag, 11. November 2014

"... fügte er mit unergründlicher Sanftmut hinzu: "Der Hahn wird nicht verkauft."


"Der Oberst hat niemand, der ihm schreibt" von Gabriel García Márquez

Es bleibt in Erinnerung ...


... die Story

In diesem kurzen Roman erzählt Gabriel Garcia Márquez die Geschichte eines ehemaligen, inzwischen stark gealterten Militäroberst in Südamerika. Dieser wartet seit vielen Jahren auf seine Pension, die ihm als Bürgerkriegsveteran zusteht. Vergeblich hofft er Woche für Woche auf das so sehr benötigte Geld, denn er und seine Frau leiden großen Hunger. Ab und an verkaufen sie Dinge aus ihrem Haushalt. Was der Oberst aber nicht hergeben möchte, ist der Kampfhahn, den sein Sohn hinterlassen hat. Der Hahn ist das Sinnbild für seinen Kampf im Leben, für die Hoffnung und das Nichtaufgeben.

... das bewegte Herz

Die Hoffnung des Oberst, wenn er Freitag auf das Postschiff wartet und die schriftliche Zusage seiner Pension ersehnt. Er und seine Frau, ihre Gespräche, ihr Darben, ihre Liebe, die auf eine große Probe gestellt wird.

... ein Zitat

"Illusionen sind nicht essbar", sagte die Frau. "Sie sind nicht essbar, aber sie ernähren" erwiderte der Oberst.

... die Sprache

Wenn die Sprache auch ganz klar und knapp ist und sich eher kurzer Sätze bedient, ist sie reich an Botschaft und Bildern. Sie lässt bereits erahnen, welche Sprachkunst Gabriel Garcia Márquez zu entwickeln vermag. Dieses ist einer der frühen Romane des Autoren.


"Fremde küssen sanft wie Falter, dachte sie."


"In der Haut eines Löwen" von Michael Ondaatje


Es bleibt in Erinnerung ...


... die Story

Kanada in den zwanziger und dreißiger Jahren:  Einwanderer bevölkern das Land, wagen einen Neuanfang. Michael Ondaatje gibt ihnen Raum, schildert Einzelschicksale. Und doch sind sie nicht für sich, denn der Autor ersinnt Schnittstellen und lässt seine Figuren an diesen zusammenkommen. Sie streifen sich, sie verlieben sich, sie planen, morden manchmal und gehen auch wieder auseinander.
Der Schriftsteller schafft Szenen, die dem Leser unvergesslich bleiben. Da sind Patrick und Hazen Lewis, die gemeinsam eine Kuh retten, die ins Eis eingebrochen ist oder verkeilte Baumstämme mit Hilfe von Sprengstoff voneinander lösen. Und ich erinnere mich an Nicholas Temelcoff, der die von einem Viadukt stürzende Nonne rettet. Bilder so stark, so eindrucksvoll. Sie ziehen mich in ihren Bann, lassen mich nicht mehr los.
Aber das Buch hat auch seine Längen. Der Leser lechzt nach weiteren Szenen, die ihn betören, aber manchmal bleibt er streckenweise etwas verloren. 

... das bewegte Herz

Das Herz schlägt für die Figuren und die unvergleichlichen Schauplätze. Und ich habe mein Herz an Ondaatjes Sprache verloren.

... ein Zitat

"Was in Patrick von der Kindheit zurückblieb, waren die in den Briefkästen festgefrorenen Briefe nach Eisstürmen. Woran er sich erinnerte, war, dass er nur die Dinge liebte, die mit Farben zu tun hatten, dass er alles Weiße hasste; er trat in das warme, braune Universum der Scheunen, aus denen der Atem und der Dampf des Viehs quoll, der beißende Dung- und Uringeruch, den er sich auch noch mitten in Toronto ins Gedächtnis rufen konnte. Dieser Geruch hatte majestätisch über seiner ersten Verführung im Heu gelegen ..."

... die Sprache

Ausnehmend poetische Sprache, die den Leser verzaubert. Ein ganz eigener Ton, der reiche Bilder entstehen lässt.







Sonntag, 2. November 2014

"... meine Lust am Spiel mit Buchstaben wie vor Jahren, als ich, gerade des Lesens und Schreibens kundig ...


"Spiel der Zeit" von Ulla Hahn



Es bleibt in Erinnerung ...


... die Story

Hilla Palm, die Tochter eines einfachen Arbeiters, aufgewachsen in Dondorf am Rhein, lebt in dem nun dritten Teil der Trilogie von Ulla Hahn, als Studentin in Köln. Nachdenklich, aber doch lebenslustig und vor allem strebsam: dem Germanistikstudium verschrieben, verspürt sie Liebe zu Klang- und Ausdruckskraft von Sprache. Wie schon im ersten und zweiten Band ("Das verborgende Wort" und "Aufbruch") spielen Hilla (und Ulla Hahn!) gerne mit Wörtern, betten sie in Lautmalereien und Gedichte.
Hilla lernt zu Beginn des neuen Romans Hugo kennen, einen wahren Seelenverwandten, was die Literatur betrifft. Was die Liebenden trennt, ist Hugos Elternhaus, stammt er doch aus einer großbürgerlichen reichen Familie, die die Nase allzu hoch trägt und Hilla alles andere als mit offenen Armen aufnimmt.
Wieder also muss Hilla sich mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen, auch mit ihrer erzkatholischen Erziehung, doch gelingt es ihr sehr gut, das Elterhaus ins Licht der Liebe zu rücken, formuliert durchweg Verständnis für die Strenge ihres Vaters, seitdem er zu einem Vertrauten geworden war.
Hilla und Hugo leben die "68er", die Zeit der Hippie- und Haschparties, der Studentenunruhen, Sitzblockaden, Ostermärsche und Demonstrationen gegen die Notstandsgesetze und den Vietnamkrieg. Im Mittelpunkt auch die fehlende Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit in der deutschen Politik.

... das bewegte Herz

Szenen aus dem Dondorfer Familienleben und die Liebe zur Sprache, gar zum einzelnen Wort, das hin- und hergedreht viel Freude bringt.

... ein Zitat

"Wir ließen uns von den Wörtern führen, verführen, an die Hand nehmen, über-hand nehmen, weiter- und wegführen vom Sinn zum Un-sinn, zur Überraschung. Wir entdeckten den Reiz der Laute, die mutwillige Lust, den Wörtern den Sinn zu rauben, sie zu ertauben, den Zusammenhang zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem zu zerstören und neu zu schaffen, eine Sprachgemeinschaft nur für uns beide."

... die Sprache

Der Leser spürt, dass Ulla Hahn eigentlich Lyrikerin ist. Gedichte sind ihre Stärke und es gibt in ihrem Buch viele prosaische Stellen, an denen ein Gedicht verloren gegangen scheint.
Gewöhnungsbedürftig ist der köllsche Dialekt, dem manchmal zuviel Platz eingeräumt wird. Wird er über etliche Zeilen gesponnen, gefällt er mir nicht mehr.
Doch das fast schon geflügelte Wort "Lommer jonn", ein Ausspruch des Großvaters, mit dem der Roman beginnt, ist gleichsam Herz und Motto. Kurz, kraftvoll, schön.

Dienstag, 21. Oktober 2014

"Wieder hob die Eifersucht den Kopf wie eine Schlange."


"Der Pianist" von Viktorija Tokarjewa




Es bleibt in Erinnerung ...


... die Story

Im Mittelpunkt dieser drei Erzählungen stehen Menschen, die bewusst oder unbewusst in eine neue Rolle schlüpfen und damit ihrem Leben eine andere Richtung geben. Stets sind sie ihr eigener Motor, in keiner der drei Geschichten ist es unabwendbar, stets bringt ein eigener Entschluss alles in Gang.
Obwohl die Protagonisten das auch schon mal abstreiten mögen ...
Die Figuren sind fesselnd, die Erzählungen jedoch nicht immer ganz ausgereift. Dem Ende fehlt die gewisse Note.
Die raffinierteste Erzählung, deren Schluss mir gut gefällt, ist die dritte, in der ein Schauspieler von dem dreiundachtzigjährigen Sokolow engagiert wird. Dieser alte Mann sitzt gelähmt im Rollstuhl und möchte, dass Nick, der Schauspieler, an seiner Stelle alles auslebt. Jeden Genuss soll er ausreizen, vor allem essen, trinken, sich prügeln und guten ausschweifenden Sex haben. Solokow knüpft allerdings daran die Bedingung, stets zugegen sein und zuschauen zu dürfen. Nick bekommt viel Geld dafür geboten und er willigt ein.
Bei einer Wolgakreuzfahrt lernt Nick Julia kennen ...

... das bewegte Herz

Die Sympathie, die man für Torkajewas Figuren hegt. Stets stürzen diese andere ins Unglück, lügen und betrügen und doch liebt man sie. Vielleicht, weil sie doch letztendlich schwach sind .
Ich mochte Igor Mesjazew, den Pianisten, aus der ersten Erzählung. Viktorija Tokarjewa räumt dieser Geschichte die meisten Seiten ein So taucht der Leser tief in Igors Gefühlsleben ein. Torkajewa macht das meisterlich.

... ein Zitat

"Der alte Mann war nett, umgänglich, hatte große verrückte Augen wie ein Grashüpfer. Auch Nick gefiel dem alten Sokolow. Der Greis, klug wie eine Schlange, sah sofort alles: die zarte Seele, das unbeständige Künstlerwesen, die Armut, die an echte Not grenzte, das Vertrauen in das Leben und die Hoffnung. Dem Alten war klar, dass es schade war, so einen zu brechen. Aber gerade weil es schade um Nick war, reizte es ihn um so mehr."

... die Sprache

Tokarjewa trifft einen ganz besonderen Ton, leise und doch durchdringend. Glasklare Gedanken in knappen Sätzen. Ich mag ihren Stil, der distanziert scheint und doch unter die Haut fährt.








Sonntag, 19. Oktober 2014

"Und dieser Gedanke war wie eine Befreiung, ein sanftes Rauschen, ein offenes Fenster ..."


"Nicht mit mir" von Per Petterson 




Es bleibt in Erinnerung ...


... die Story

Die Geschichte dieses Romans beginnt im Jahr 2006. Auf einer Brücke unweit von Oslo treffen sich zufällig Tommy und Jim. Beide sind ein wenig überrascht, denn sie haben sich über dreißig Jahre nicht gesehen. Damals waren sie beste Freunde, unzertrennlich und vertraut.
Das Buch begibt sich jetzt in Episoden in die Vergangenheit und erzählt, welchen Weg die Freundschaft der beiden genommen hat.
Sie wachsen sehr verschieden auf, Jim bei seiner Mutter, wohl behütet, und Tommy bei einem Pflegevater, nachdem es in seinem Elternhaus zu Gewalt gekommen ist. Die Jungen entwickeln sich so, wie ihre Herkunft es eigentlich nicht hat vermuten lassen. Tommy ist beruflich erfolgreich, während Jim schon länger krankgeschrieben ist und seinen Beruf nicht mehr ausübt. Ihn plagen Depressionen und er hat bereits einen Selbstmordversuch hinter sich.
Das Ende schenkt dem Leser nicht das erhoffte Happyend, überrascht aber mit einer anderen schönen Verknüpfung.

... das bewegte Herz

Die beiden Freunde, die ich ins Herz geschlossen habe. Und die ganz großen Fragen, die gestellt, aber nicht unbedingt beantwortet werden: wie werden wir zu dem, was wir sind und welchen Anteil haben Kindheit und Jugend? Wie wichtig ist der Vater? Was kann eine Freundschaft aushalten und woran geht sie vielleicht zugrunde? Was schenkt uns Halt im Leben, wieviel Nähe brauchen wir und wann brechen wir aus?

... ein Zitat

"Da stand ich auf. Von wegen Frieden, dachte ich, von wegen etwas, was uns aneinanderkettet. Nicht mit mir."

... die Sprache

... transportiert Wärme. Petterson ist, was Zwischenmenschliches angeht, ein großer Versteher, blickt hinter Gesagtes und Ungesagtes. Suggestiv. Poetisch. Mit viel Liebe für seine Figuren.

Montag, 13. Oktober 2014

"Leben um davon zu erzählen" von Gabriel Garcia Márquez




Es bleibt in Erinnerung ...


... die Story

Die Lektüre dieses Buches lässt den Leser erfahren, wie Garcia Márquez zum Schriftsteller wurde, zu einem begnadeten, wie wir wissen. Der Roman beginnt mit einem Schlüsserlebnis, nämlich der gemeinsamen Reise mit seiner Mutter nach Aracataca, wo der Verkauf des Hauses der Großeltern ansteht, in dem Márquez die Jahre seiner Kindheit verbrachte. Er erkennt, dass hier der Stoff für seine Bücher herkommen muss. Nichts Erdachtes kann so schöpferisch sein, wie das, was er mit eigenem Herzen erlebt und mit seinen Kinderaugen gesehen hat.  Auf dem Rückweg verrät er seiner Mutter, dass es nur eines für ihn gibt: Schriftsteller werden. Seine Eltern hegten eigentlich die Hoffnung, er möge Jura studieren, schon alleine des Auskommens wegen. Tatsächlich muss er über vierzig werden, bevor er überhaupt von seinen Autorenhonoraren leben und seine Familie unterstützen kann. Bis dahin hält er sich mit Hilfe von Artikeln, Kommentaren und Glossen in Zeitungen über Wasser und versucht sich an ersten Erzählungen. Der Erfolg lässt lange auf sich warten.
Sehr interessant für Freunde seiner Romane sind die Lektüren seiner eigenen Jugend, nämlich Faulkner, Joyce, Borges, Huxley, Kafka, Green und Dostojewski. Es fällt das Wort "Lesegier". Oft sind ihm die Lesestunden wichtiger als das Vorankommen in der Schule oder das Geldverdienen für seinen Lebensunterhalt.
Das Buch gewährt auch Einblick in die Geschichte Kolumbiens, vor allem in politische Unruhen und verhängte Pressezensur. Márquez bringt sich mit manchem Artikel in Gefahr und nachdem er gut recherchiert den "Bericht eines Schiffbrüchigen" herausgebracht hat, verlässt er zu seiner Sicherheit Kolumbien.

... das bewegte Herz

Sein Drang zu lesen und zu schreiben. Seine Kindheit und wie er alles aufsaugt, als wüsste er schon, dass er es mal in seinen Romanen verwenden kann. Seine Pein, als er den Eltern sagen muss, dass er Schriftsteller sein möchte, nur Schriftsteller.

... ein Zitat

"Als ich die Suppe kostete, schien eine schlafende Welt in meinem Gedächtnis zu erwachen. Geschmäcker der Kindheit, verloren, seitdem ich das Dorf verlassen hatte, stellten sich unbeschädigt mit jedem Löffel wieder ein und machten mir das Herz schwer."

... die Sprache

Die Sprache ist zuweilen so üppig, wie wir es aus seinen großen Werken kennen. Man spürt die schwüle heiße Luft, sitzt mit den Toten am Bett und riecht den Schweiß seiner Konkubinen. Márquez malt Bilder, die den Leser packen und einvernehmen.

Sein erster Roman heißt "Laubsturm". Von diesem ist in diesem Buch sehr viel die Rede. Das veranlasste mich, ihn zu kaufen. Ich bin gespannt, denn es sind viele seiner Kindheitserinnerungen verarbeitet.

Mittwoch, 1. Oktober 2014

"Meine wundervolle Buchhandlung" von Petra Hartlieb



Es bleibt in Erinnerung ...


... die Story

Petra Hartlieb und ihr Mann kaufen gleichsam über Nacht eine Buchhandlung in Wien. Vorerst liebäugeln sie nur mit dem Objekt, geben ein Gebot ab und bekommen letztendlich den Zuschlag, obwohl sie nicht ernsthaft damit gerechnet haben. Oder doch? Denn eines lässt dieses Buch den Leser spüren: es ist wahrhaft die Liebe zu den Büchern und der schöne Traum, eine kleine Buchhandlung sein eigen zu nennen, der sie treibt. Verrückt ist nur: sie haben nicht das Geld dafür und sind eigentlich in Hamburg zu Hause, leben und arbeiten dort sogar sehr gerne. Die guten Jobs und die schöne Wohnung werden gekündigt und das Familienleben wird nach Wien verlegt. Die Buchhandlung muss renoviert und umgebaut, alle Kräfte und Freunde mobilisiert werden. Und auch im Buchladenalltag scheint das kleine Familienunternehmen zunächst ermattet und gerädert. Oft sind noch nicht mal die Nächte zum Schlafen da, die Kinder kommen zu kurz und trotz bester Organisation geht in der Buchhandlung manches drunter und drüber.
Der Auftrieb für ihre müde Seele sind die Momente, in denen die Autorin innehält und gewahr wird, wie erfüllend ihr Tun trotz alledem ist und dass sich jede Mühe und ungeschlafene Stunde gelohnt hat. Die Liebe zu den Büchern, der Kontakt zu Autoren und treuen Kunden und immer wieder die glückliche Ohnmacht, im eigenen Buchladen zu stehen. Wovon so mancher Bücherfreund träumt, das haben die beiden wahr gemacht.

... das bewegte Herz

Dass sie manchmal Bücher liest, die sie so sehr bewegen, dass sie zur Missionarin wird und aufpassen muss, dass sie diese Bücher vor lauter Begeisterung nicht einfach verschenkt ...

... ein Zitat

"Zwei Kilometer sind ja nicht so schlimm, und bei der Volksoper bin ich fast schon wieder nüchtern. 
Und da vor mir: Meine Buchhandlung. Eigentlich müsste ich mich an den Anblick inzwischen gewöhnt haben, immerhin gibt es die jetzt seit mehreren Jahren, doch immer wieder passiert es, dass ich kurz die Luft anhalte, wenn ich den Schriftzug meines Namens auf der weißen Markise lese. Meine Buchhandlung."

... die Sprache

Die Sprache ist voller Schwung und Tempo, als müsste auch das Schreiben schnell erledigt werden, denn die Autorin muss ja gleich wieder in die Buchhandlung ...
Petra Hartlieb erzählt mit Humor, Selbstironie, Esprit und Leidenschaft. Einmal begonnen, kann man das Buch nicht mehr zur Seite legen.






Sonntag, 21. September 2014

"Wir haben Raketen geangelt" von Karen Köhler




Es bleibt in Erinnerung ...


... die Story

Karen Köhler erzählt in neun Kurzgeschichten von Menschen, die mit dem Scheitern oder dem Tod konfrontiert sind. Kaputte Seelen, Krebserkrankungen, gestrauchelte Liebe. Ihre Figuren verzehren sich nach Veränderung, versuchen auszubrechen auf der Suche nach einem Strohhalm, der sie hält. Manchmal ist die Trostlosigkeit nicht auszuhalten. Und doch gelingt es Karen Köhler, der Schwermut ein paar Flügel zu verleihen. Manchmal schwingt Hoffnung mit, da, wo eigentlich keine mehr ist. Das gelingt ihr stilistisch und mit Hilfe einer außergewöhnlichen Sprache, die mit schnoddriger Aufmüpfigkeit daherkommt.

... das bewegte Herz

Diese Figuren in ihren fast ausweglosen Ausnahmesitationen bewegen. Es scheint, Karen Köhler leiht ihnen Stimme und Wortglut, damit diese Menschen sich ausdrücken können. Alle erzählen in der Ichform, schreiben Briefe, Postkarten oder Tagebuch. Man ist ganz nah an ihnen dran.

... ein Zitat

"Du schaust mich für einen winzigen Moment mit einer Abschätzigkeit an, die mir bedeutet, dass du nicht glauben kannst, dass ich aus deinem genetischen Material geformt sein soll, dass du eine bessere Tochter verdient hättest als diesen kranken krummen Klumpen, der da vor dir an einer Cola nuckelt.
Als mir das erste Büschel in der Bürste hängen blieb, habe ich nicht lange gefackelt. Jetzt sind sie raspelkurz. Die Spitzen hätten sowieso mal ab gemusst."


... die Sprache

Sie hat einen ganz rauen spritzigen Charme. Paart Ruppigkeit mit Poesie. Melancholisch und doch frisch.


Gestern: mit Skepsis halte ich das Buch in der Hand. Im Vorfeld viel Lobhudelei und ich mag den Titel nicht.
Heute: glücklich, es gelesen zu haben. Ein großartiges Buch!



Freitag, 19. September 2014

"Fische schließen nie die Augen" von Erri de Luca



Es bleibt in Erinnerung ...


... die Story

Der Icherzähler erinnert sich mit fünfzig Jahren an einen für ihn bedeutenden Sommer. Er bezeichnet ihn als seinen Abschied von der Kindheit. Bilder ziehen auf: der Junge ist sehr in sich gekehrt, fährt gerne mit den Fischern auf's Meer oder vertieft sich in Bücher. Von Gleichaltrigen hält er sich fern, mag "dieses Gewimmel wie in einem Aalbecken" nicht.
Alles verändert sich, als er ein Mädchen kennenlernt. Auf sie aufmerksam wird er, da sie von einer "Aura aus Stille" umgeben ist und ganz versunken am Strand kleine, gelbe Bücher liest. Sie scheint ihm ähnlich.
Doch gibt es in Neapel am Meer weitere Jungen, die sich für das Mädchen interessieren und er gerät er mit diesen "Konkurrenten" aneinander. Seine Rolle dabei ist passiv. Er lässt sich verprügeln und erträgt es in der Hoffnung, dadurch aus seinem Kinderkörper rauszufinden. Er möchte an dieser Gewalt wachsen, gibt sich ihr hin, erwartet eine Verwandlung wie das Schlüpfen aus einem Kokon.
Schließlich ist es die zarte Liebe zu dem Mädchen, die ihn reifen lässt.

... das bewegte Herz

Der Junge in seinem Körper, wie er fühlt und sehnt. Und die berührenden Sätze, die Erri de Luca dazu findet und die nicht treffender sein könnten.

... ein Zitat

"Ich war inzwischen zehn Jahre alt, ein sprachloses Knäuel Kindheit. Zehn Jahre war eine feierliche Ziellinie, zum ersten Mal schrieb man sein Alter mit zwei Ziffern. Die Kindheit endet offiziell, wenn man den Jahren die erste Null hinzufügt. Sie endet, aber nichts geschieht, man steckt in demselben gehemmten Kinderkörper früherer Sommer, innerlich aufgewühlt ... ich steckte in einem verpuppten Körper, und nur der Kopf versuchte, ihn aufzubrechen."

... die Sprache

Sie hat mich von Anfang an gepackt, ist reich an Poesie und wartet mit vielen Sätzen auf, die es wert sind rausgeschrieben oder mit einem post-it versehen zu werden. 

Donnerstag, 11. September 2014

"Später Ruhm" von Arthur Schnitzler



Es bleibt in Erinnerung ...


... die Story

Diese Novelle hat Arthur Schnitzler bereits 1894 (im Alter von 32 Jahren) geschrieben. Sie wurde aber erst jetzt seinem Nachlass entnommen und veröffentlicht.
Erzählt wird die Geschichte von Eduard Saxberger, der vermeintlich auf seine alten Tage nochmal die Chance bekommt, zu spätem Ruhm zu gelangen.
Als junger Autor machte er mit seinem Werk "Wanderungen" auf sich aufmerksam. Der große Erfolg stellte sich jedoch nicht ein und so zog Saxberger sich in ein behäbiges, stilles Beamtentum zurück.
Schließlich wühlt eine junge Dichtergruppe den alt gewordenen Künstler nochmal auf. Diese lädt ihn zu allabendlichen Treffen ein und als ein gemeinsamer literarischer Abend geplant ist, wird er aufgefordert, doch auch etwas vorzutragen. Bedingung ist, es sollte etwas Neues sein. Saxberger, der sich sehr geehrt fühlt, muss aber feststellen, dass nichts mehr aus seiner Feder fließt. Er sucht noch ganz bewusst das Donauufer auf, ein Ort, der ihn früher zum Schreiben inspiriert hat. Doch die gewünschten Worte bleiben aus.

... das bewegte Herz

Der Ton dieser Novelle ist ein leichter, etwas satirisch spottend. Von daher ist das Leserherz nicht wirklich bewegt. Ich fühlte mich etwas auf Abstand gehalten. Das mag mit daran liegen, dass die Figuren fast so was wie Rollen spielen.
Es wird vermutet, dass Arthur Schnitzler mit Hilfe ihrer seine eigenen Freunde aus dem damaligen Künstlerkreis  karikiert hat.

... ein Zitat

"Es war ihm unmöglich, zu einem stillen Überlegen zu kommen... es war ihm, als flatterten selbst die armseligen Gedanken, die er schon eingefangen hatte, wieder davon ..."

... die Sprache

Sie wirkt in der heutigen Zeit etwas ältlich, passt aber hervorragend zum Erzählten. Man meint sogar, etwas vom Wiener Charme zu spüren.



Sonntag, 7. September 2014

"Transatlantik" von Colum McCann



Es bleibt in Erinnerung ...


... die Story

Der irisch-amerikanische Autor rankt eine Familiengeschichte um drei historische Ereignisse: den ersten Nonstop-Transatlantikflug von Arthur Brown und Jack Alcock 1919, die Reise des ehemaligen Sklaven und inzwischen gefeierten Schriftstellers Frederick Douglass 1845 nach Dublin, um dort Reden gegen die Sklaverei zu schwingen, und 1998 der Flug von US-Senator George Mitchell nach Belfast im Bemühen um den Friedensprozess im Nordirlandkonflikt.
Diese Ereignisse haben die Atlantiküberquerung gemein und sind alle historisch belegt, erzählen also von großen Figuren, die wirklich gelebt haben und Beachtung verdienen.
Die große Zeitspanne, die erfasst wird, lässt es vermuten: die Familiengeschichte spannt sich über vier Generationen. Sie ist gekonnt mit der Historie verwoben und erschließt sich dem Leser nach und nach.
Zu Beginn des Buches ist ein geheimnisvoller Brief erwähnt, der am Ende wieder auftaucht, dessen Kreis sich schließt.
Der Transatlantikflug von Brown und Alcock ist solch eine starke berauschende Episode, dass die nachfolgenden Ereignisse darunter leider etwas verlieren. Doch der Autor wartet mit Protagonisten auf, die faszinieren und deren Charme den Leser bannt. In der letzten Generation der Familiengeschichte sind aber Autor und die Protagonistin ein wenig gequält bemüht, den Kreis bezüglich des Briefes zu schließen.
Mein Fazit ist aber zweifelsohne, dass dieses Buch sehr lesenswert ist und ich es jedem ans Herz legen möchte.

... das bewegte Herz

Am meisten bewegt der Flug der Abenteurer Brown und Alcock.
Aber es sind auch die kleinen Persönlichkeiten in diesem Buch, die mich berührt haben. Die größte Faszination geht von Lily aus, die mit ihrer Familie aus einem See Eisblöcke schneidet und verkauft. Eine Szenerie, die ich immer noch vor Augen habe. Lily ist wunderbar gezeichnet und McCann lässt sie staunenswert kämpfen und ihr Glück suchen.

... ein Zitat

"Es gab etwas, das sie wollte, immer knapp außerhalb ihrer Reichweite, doch nie wusste sie ganz genau, was es sein könnte. Sie sehnte sich nach mehr, nach dem Umblättern einer Seite, dem Ende einer Zeile, der Kraft eines Wortes, dem Bruch in der Struktur ihrer Gewohnheiten. Sie beneidete die junge Woolf. Wie präzise, wie vielversprechend diese Engländerin war. Die Vielzahl ihrer Stimmen. Die Fähigkeit, in mehreren Körpern zu leben. Vielleicht war das der Grund für diese Reise: dass sie die Routine abschütteln, etwas mehr Herzklopfen in ihre Tage bringen wollte."

... die Sprache

Bemerkenswert. Colum McCann ist einer der Autoren, der auch kurze, von der Struktur her eher nicht melodische Sätze, zum Klingen bringen kann. Knapp und doch dicht, als würde alles an Gefühl komprimiert.

Mittwoch, 3. September 2014

"Die Meisen von Uusimaa" von Franz Friedrich



Es bleibt in Erinnerung ...


... die Story

Den meisten Raum in diesem Buch nimmt das unerklärliche Verstummen einer Meisenpopulation auf der finnischen Insel Uusimaa ein. Die Dokumentarfilmerin Susanne Sendler ist vor Ort und dreht einen Film über diese Vögel, die den Inselbewohnern ein Rätsel aufgeben.
Franz Friedrich verwebt mit diesem weitere Erzählstränge, die in lockerer Verbindung zu den Geschehnissen auf Uusimaa stehen. Zum Beispiel lernt in Berlin eine amerikanische Studentin Hektor kennen, dessen Frau auf Uusimaa lebt und der, sobald die Meisen wieder singen, mit seinem Sohn nachziehen möchte.
Auch geht es um einen jungen Filmemacher, der zufällig auf Susanne Sendlers Film gestoßen ist und sich Jahre später ebenfalls auf den Weg nach Finnland macht.
Mit auf dem Schiff reisen ein Vater und sein Sohn. Meine Phantasie erlaubt mir, in ihnen Hektor und seinen Sohn Paul zu sehen.
Jede Geschichte für sich zieht den Leser in einen Sog, aber auf der Suche nach einem allumfassenden Zusammenhang droht er abhanden zu kommen. Ein Buch, das es vielleicht verdient, ein zweites Mal gelesen zu werden. Aber ob man dann mehr Verknüpfungen aufspürt, bleibt fraglich. Denn selbst der Autor spricht bei seinem Werk von der "offenen Form". 
Das Buch steht auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis und alljährlich bin ich geneigt, möglichst vielen dieser Nominierten meine Lesezeit zu schenken. Das verleitet mich leider immer wieder, zu schnell über diese Leseschätze zu huschen.

... das bewegte Herz

Diese Menschen, die nach Gründen suchen, warum die Meisen verstummt sind und denen es wichtig ist, dass die kleine Population wieder singt. Die zum Ausdruck gebrachte Wertschätzung eines Naturschauplatzes.

Monika, die in Berlin an ihrer Doktorarbeit schreibt und deren Stipendium nicht verlängert werden soll. Ihre Not hat mich bewegt.

... ein Zitat

"Die Sonne trat heraus, Licht durchstrahlte das Laub, und jedes Blatt, das fein gezackt war, wie die Tortenspitzdeckchen einer Konditorei, schillerte kleegrün und blendend weiß. In diesem Moment, der mich vergessen ließ, warum ich hier war, erblickte ich auf einem Espenzweig eine kleine zerzauste Gestalt. Wind fuhr ihr durch das flaumige Gefieder, sie trotzte einer Böe ..."

... die Sprache

Eine Sprache, die hoffen lässt, dass Franz Friedrich weitere Bücher schreibt. Sie hat mich mit ihren vielen Facetten gefesselt. Geht es um Naturbeschreibungen oder darum, wie seine Zentralfiguren fühlen und denken, immer gelingen seine sprachlichen Ausführungen. Sehr gerne bin ich dem Autoren gefolgt.


Dienstag, 2. September 2014

"Am Ende eines Sommers" von Isabel Ashdown



Es bleibt in Erinnerung ...


... die Story

Durch diesen Roman ziehen sich zwei Perspektiven. Zum einen erzählt Mary von sich und ihrer Schwester Rachel, wie sie Anfang der sechziger Jahre engverbunden und lebenshungrig aufwachsen. Zum anderen hören wir Jake, der als Dreizehnjähriger darunter leidet, dass seine Eltern ihr Leben nicht in den Griff bekommen. Der Vater hat sich von seiner Mutter getrennt und letztere versinkt in Alkohol und Depression.
Der Leser erfährt schon früh, dass es sich bei Jakes Mutter um Mary handelt. Dank der Kapitel, die aus Marys Sicht geschrieben sind, erfährt man die Gründe für ihre Labilität. Zumindest deuten sie sich an. Der Leser sympathisiert durchaus mit Mary, denn wenn sie aus ihren depressiven Phasen auftaucht, erweist sie sich als äußerst herzliche Mutter. Jake liebt sie bedingungslos und übernimmt viel Verantwortung und hilft ihr, wenn sie nicht zurecht kommt. Man merkt aber, dass seine kleine Kinderseele brennt und er eigentlich überfordert ist.
Mary und Rachel hüten ein Familiengeheimnis, das nur stückweise gelüftet und selbst am Ende nicht ganz aufgeklärt wird. Der Schluss ist dramatisch und trotzdem schwingt wieder etwas Hoffnung mit. Es ist die Sicht von Jake, die diesen Roman zu etwas Besonderem macht. Eigenwillig und trotzdem vorstellbar.
Eine psychologische Meisterleistung der Autorin.

... das bewegte Herz

Jake rührt den Leser, aber ebenso die verzweifelte Mary. Und wunderschön sind die glücklichen Szenen in dieser Familie, die es auch gibt, nämlich dann, wenn es Mary besser geht. Die Kinder saugen diese Momente regelrecht auf.

... ein Zitat

"Was passiert jetzt, Dad?, frage ich.
Sein Gesicht ist grau über der dunkelbraunen Brust, und er weicht meinem Blick aus.
Dad?
Dad schüttelt den Kopf, seine festen Gesichtszüge brechen auseinander, und wir wissen, das alles ist Wirklichkeit. Andy fängt an, auf seine Knie zu weinen, ein heftiges Schluchzen schüttelt ihn. Dad hebt ihn hoch, drückt ihn an sich und wiegt ihn sanft, und er sieht so klein aus. Mein kleiner Bruder.
Mein Verstand sucht nach etwas Nützlichem, etwas Praktischem.
Was sollen wir jetzt machen, Dad? Sollten wir nicht jemandem Bescheid sagen?"

... die Sprache

Sie nimmt den Leser gefangen. Sie ist leise, aber eindringlich, transportiert Liebe, Verzweiflung und Hoffnung.
Das Ende fasziniert, es ist eine Glanzleistung. Denn trotz des schrecklichen Szenarios fährt die Sprache nicht mit Horrorvokabular auf.





"Ein ganzes Leben" von Robert Seethaler  




Es bleibt in Erinnerung ...


... die Story 

Andreas Egger findet nach dem Tod seiner Mutter eine neue Heimat bei seinem Onkel. Letzterer lebt in einem abgeschiedenen Tal und lässt Andreas auf seinem Hof als Knecht arbeiten. Er schenkt ihm nur wenig Liebe, schlägt den Jungen gar. Erst mit achtzehn Jahren hat Andreas die Traute, sich seinem Onkel zu widersetzen. Er verlässt den Hof, verdient sich Geld mit Gelegenheitsarbeiten und kann sich schließlich, als er neunundzwanzig ist, ein eigenes kleines Grundstück kaufen und ein Häuschen daraufsetzen. Andreas verliebt sich in das Wirtshausmädchen Marie und heiratet sie. Sein Glück bekommt einen Riss, als eine Lawine über das Haus fegt und Marie darunter begräbt. Andreas tritt in den Kriegsdienst, gelangt für acht Jahre in russische Gefangenschaft und kehrt erst danach zurück ins Tal. Er bietet Bergführungen für Touristen an, lebt aber ansonsten sehr zurückgezogen und eigenbrötlerisch. 
Wie das Buchcover schon verrät, findet sich hier Andreas' "ganzes Leben" beschrieben. 
Auf dem Rücken der Rucksack, gepackt mit Ge- und Erlebtem. Am Ende findet sich Andreas nach seiner Wanderreise durch die Jahre mit dem Tod konfrontiert. Und es sind die vielen Erinnerungen und Gedanken, die ihn stärken und ruhig und friedlich gehen lassen. Ganz eins mit sich.

... das bewegte Herz

Die Hingabe ans Leben. Das Leben so nehmen zu können, wie es einem gegeben wird. Keine Verbitterung.

... ein Zitat

"Er hatte ein Haus gebaut, hatte in unzähligen Betten, in Ställen, auf Laderampen und ein paar Nächte sogar in einer russischen Holzkiste geschlafen. Er hatte geliebt. Und er hatte eine Ahnung davon bekommen, wohin die Liebe führen konnte ... Er konnte sich nicht erinnern, wo er hergekommen war, und letztendlich wusst er nicht, wohin er gehen würde. Doch auf die Zeit dazwischen, auf sein Leben, konnte er ohne Bedauern blicken, mit einem abgerissenen Lachen und einem einzigen, großen Staunen."

... die Sprache

Es ist eine mit der Natur und dem Leben verbundene Sprache, so wie man vielleicht nur schreiben kann, wenn man sich eins fühlt mit dem kleinen Landstrich, in dem man lebt und liebt. Zarte, warme Sprache. 

Samstag, 23. August 2014

"Revolutionen" von J.M.G. Le Clézio 





Es bleibt in Erinnerung ...


... die Story

Der dreizehnjährige Jean Marro wächst zur Zeit des Algerienkrieges an der französischen Mittelmeerküste auf. In den Nachmittagsstunden liebt er es, seine Tante Catherine zu besuchen. Sie erzählt ihm von Mauritius, wo Jeans Ahnen ein Anwesen (mit Namen Rozilis) besessen haben. Jean lauscht seiner Tante gerne, denn er fühlt, dass dort im fernen Paradies die Wurzeln der Familie liegen. Alles scheint ein bisschen geheimnisumwittert und der Leser ist genauso gespannt wie Jean und möchte mehr erfahren.
Das Buch wartet mit weiteren Erzählebenen in der Vergangenheit auf. Zum einen sind dies Passagen, in denen ein Urahn Jeans sich für die Freiheit der Sklaven einsetzt. Brutale Auswüchse beherrschen die Zeit und Jean Eudes Marro (der Ahne) kommt erst in Rozilis zur Ruhe. Dort lebt er dann mit seiner Familie sehr abgeschieden in einem paradiesischen exotischen Kleinod.
Auch Jean ist auf der Suche nach Heimat, lebt unstet, hat wechselnde Beziehungen zu Frauen und verlässt schließlich Frankreich, um nicht als Soldat in Algerien kämpfen zu müssen. Es folgen Auslandsjahre in London und Mexiko.
Zur Ruhe kommt Jean erst, als er nach Mauritius reist und Rozilis nachspürt. Es ist wie ein Nachhausekommen. Auch besucht er das Grab von Jean Eudes Marro und fühlt sich dem fernen Ahnen wunderbar nahe.

... das bewegte Herz

Das Gewicht von Heimat, das Sichverbundenfühlen mit einem Landstrich und den Menschen, die Familie bedeuten. Ankommen, sich ganz fühlen.

... ein Zitat

"Die Erinnerung ist nichts Abstraktes, dachte Jean. Sie ist eine Substanz, eine lange Faser, die sich um die Wirklichkeit wickelt, sie mit Bildern aus fernen Zeiten verknüpft, deren Vibrationen verlängert und ihre Strömung bis in die verästelten Nerven des Körpers weiterleitet."

... die Sprache

Warm, melodisch, klingend. Mit sehr viel Gefühl, ohne ins Kitschige zu rutschen. Immer wenn man denkt "haarscharf", ist man schon wieder gerettet ...


Das Buch hat ein paar Längen, aber es lohnt sich, mit gespitzter Aufmerksamkeit dabei zu bleiben! 
Angeblich ist dies das persönlichste Werk des Literaturnobelpreisträgers J.M.G. Le Clezio. Er klingt sehr viel Autobiographisches an.








"Vielleicht Esther" von Katja Petrowskaja 




Es bleibt in Erinnerung ...


... die Story

Hält man das Buch in der Hand, möchte das Cover dem Leser einen Roman versprechen, blättert man es auf, erblickt man den Zusatz "Geschichten". Katja Petrowskaja verknüpft in ihren Kapiteln Lebensabschnitte verstorbener Familienmitgliedern, greift "verlorene Fäden" auf, fügt recherchierend zusammen, schafft Bezüge, sortiert und archiviert. Sie geht dabei persönlich ambitioniert vor. Fast ist es, als ergäbe sich dieses Buch nur, weil alles irgendwo niedergeschrieben werden muss, davor bewahrt werden muss, wieder verloren zu gehen.
Die Autorin fährt von Berlin aus nach Warschau, nach Ausschwitz und nach Mauthausen und ist auf der Suche nach den Spuren ihrer jüdischen Ahnen. Die Vergangenheit braucht Worte, man spürt, wie Katja Petrowskaja sie sucht, denn die deutsche Sprache ist nicht ihre Muttersprache. Und doch wirken ihre Geschichten ungezwungen, wahrscheinlich, weil sie so locker aufgereiht sind.
Einiges bleibt auch im "Vielleicht" stecken, da die Menschen sich nicht mehr richtig erinnern oder verlässliche Quellen fehlen. So auch der Name ihrer Urgroßmutter.

... das bewegte Herz

Babuschka Rosa, die erblindet und  Babuschka Esther, die auf offener Straße erschossen wird. Großvater Wassilij in seinem Rosarium  und dann als Name auf der Mauthausener Registrierungskarte. Wie Katja Petrowskaja in den Baracken steht und ihm nachspürt.

... ein Zitat

"Ich wollte mich immer mir der Geschichte beschäftigen, sagte mir mein Vater, aber ich wollte nie, dass sie sich mit mir beschäftigt, und er sagte auch, dass man keine Verwandten brauche, um einen Bezug zur Geschichte zu haben. Und ich sagte, doch, ich habe nun einmal diese Neigung, alles in ein großes Panorama zu stellen, als befänden wir uns selbst in der Windrose des Geschehens ..."

... die Sprache

Sehr bildreich und phantasievoll. Frisch und nicht erstarrend, wenn es um Trauer geht. Die Bilder haben oft Witz und Charme. Beeindruckend, wie die Autorin es versteht, sich in Deutsch auszudrücken.