Montag, 31. März 2014

"Lolita" von Vladimir Nabokov


Es bleibt in Erinnerung ...


... die Story

Humbert Humbert, der Icherzähler in diesem Roman, sitzt im Gefängnis und schreibt sein Leben nieder. Damit legt er gewissermaßen ein Geständnis ab, spricht aber immer wieder die Geschworenen oder den Leser an und bittet um Verständnis für das, was er getan hat ...
Er wächst mutterlos bei Verwandten auf, studiert später Literatur. Mitte der vierziger Jahre lässt er sich nach einer unglücklichen Ehe in einer amerikanischen Kleinstadt nieder, mietet dort zunächst nur ein Zimmer im Hause der Charlotte Haze. Letztere hat eine zwölfjährige Tochter und Humberts Leidenschaft entbrennt für diese Nymphe (wie er selber sagt). Die Umstände wollen es, dass Charlotte sich in ihn verliebt und er diese heiratet, um in Lolitas Nähe blieben zu können. Mehr und mehr gerät er in die Abgründe seines Begehrens und als Charlotte verzweifelt vor ein Auto läuft und umkommt, nimmt er sich Lolitas an und die eigentliche Dramatik nimmt ihren Lauf. Die beiden reisen kreuz und quer durch die USA und  sind in dieser Zeit ein "Liebespaar". Humbert erkauft sich gewissermaßen Lolitas Liebesdienste. Dafür gibt es Kinobesuche, Geld oder auch mal die Erlaubnis, Zeit mit Gleichaltrigen verbringen zu dürfen. Lolita ist ihm ausgeliefert. Humbert ist sich immer mehr der Verwerflichkeit seines Tuns bewusst und hat Angst vor Aufdeckung und Verfolgung. Nach einem Krankenhausaufenthalt Lolitas, verliert er tatsächlich das Mädchen. Mit Hilfe eines anderen Mannes kann sie flüchten. Das Buch endet schließlich in einem Mord.

... das bewegte Herz

Humbert dreht sein Innerstes nach außen. Damit gelingt es Nabokov, beim Leser Mitgefühl zu wecken. Humberts Schmerz und seine Leidenschaft rühren, obwohl man an und für sich dieses Gefühl nicht zulassen möchte.

... ein Zitat

"Ich habe oft beobachtet, dass wir geneigt sind, unsere Freunde mit derselben Wesensbeständigkeit auszustatten, die literarische Gestalten in der Vorstellung des Lesers erlangen. Einerlei, wie oft wir König Lear wieder aufschlagen, nie werden wir den guten König dabei finden, in überschäumender Lustbarkeit, alles Leid vergessend, bei einer fröhlichen Zusammenkunft mit seinen drei Töchtern und ihren Schoßhunden den Becher zu schwenken. Niemals wird Emma von den Salzen mitfühlender Tränen wiederbelebt werden, die Flauberts Vater zur rechten Zeit vergoss. Welche Entwicklung dieser oder jener beliebte Charakter auch zwischen den Buchdeckeln durchmacht, sein Schicksal ist in unseren Köpfen ein für allemal besiegelt, und ebenso erwarten wir von unseren Freunden , dass sie unverrückbar in dieser oder jener logischen und konventionellen Schablone bleiben, auf die wir sie festlegen."

... die Sprache

Ganz groß! Die Sprache hilft ein wenig über die beklemmende Handlung hinweg. Grazil in den unangenehmsten Szenen. Poetisch in der Landschaftsbeschreibung. Und exemplarisch in der Betrachtung des Lebens. Ein echter Nabokov.
"Die Einsamkeit des Astronomen" von Ulrich Woelk


Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Frank Zweig arbeitet als Astronom in einer Sternwarte in Südfrankreich. Beurlaubt macht er sich auf den Weg nach Köln, um dort zusammen mit seiner Schwester Marthe den Haushalt des Vaters aufzulösen. Im Elternhaus erinnert er sich seiner Vergangenheit. Dort muss er außerdem einen Bericht  verfassen, der einen Jahre zurückliegenden Unfallhergang in einer bayrischen Sternwarte erhellen soll. Frank Zweig verließ diese Sternwarte auf dem Fernstein kurz vor dem Unfall und wird nochmal als Zeuge oder sogar Mitverantwortlicher vernommen. Der Leser erfährt von Frank Zweigs Freund- und Liebschaften. Zum einen Lozki, ebenfalls Physiker und Astronom, mit dem Frank zusammen auf dem Fernstein gearbeitet hat. Zum anderen Ellen, eine Meteorologin, Franks große Liebe zu jener Zeit.
Lozki gab sich schon fast manisch der Suche nach einem erdähnlichen Planeten hin. Diese Obsession schien letztendlich der Auslöser für den Unfall in der Sternwarte zu sein.

... das bewegte Herz

In meinem Herzen tat sich ganz viel, als ich dieses Buch las. Es werden einfach die ganz großen Fragen des Lebens gestellt, sei es nach Überzeugungen, Visionen, der Suche nach Glück und Liebe. Wovon träumt man und was verwirklicht man?
Einfach wunderbar eine Szene, in der Frank mit seinem Vater ein Modellflugzeug fliegen lässt. Diese Szene lässt nichts vermissen, was das Herz braucht: die Vater-Sohn-Beziehung, der verzweifelte Wunsch, das kleine Flugobjekt möge abheben, Glaube, Enttäuschung, Scham.

... ein Zitat

"Die Wolken, die es von unten gesehen so eilig hatten, irgendwohin zu kommen, scheinen nun unbewegt auf der Landschaft zu liegen. Ihre weißen Ballungen sind gebettet in den gelblichblauen Dunstschleier der Biosphäre. Nur dort unten, in diesem etwas schmuddeligen Temperatur- und Staub- und Pollengemisch ist es für uns Menschen gemütlich. Und doch kann ich mich der Faszination des Vakuums, der leuchtenden Reinheit und dem ungetrübten Blau hier oben nicht entziehen ... Und auf einmal habe ich einen kurzen surrealen Traum: ich stelle mir vor, das kleine Flugzeugfenster neben mir zu öffnen, den Kopf in die Kälte hinauszustecken, das Gesicht nach oben zu wenden und so laut es mir möglich ist zu rufen: Hallo!"

... die Sprache

Die Sprache hat mich mitgenommen in den großen Weltraum Leben,  klar und allumfassend ... und doch so philosophisch verträumt. Eine ganz besondere Komposition.
"Der grüne Blitz" von Jules Verne


Es bleibt in Erinnerung ...


... die Story

Helena Campbell wächst wohlbehütet und gutsituiert bei ihren Onkeln Sib und Sam Melvill in Schottland auf. Die beiden lieben ihre Nichte, sind aber der Ansicht, dass sie, nun achtzehnjährig, heiraten sollte. Helena möchte gerne, bevor sie sich bindet, den "grünen Blitz" zu Gesicht bekommen. Dies ist ein Naturphänomen, das nur unter bestimmten Bedingungen zu beobachten ist. Die Sonne muss über einem offenen Meereshorizont untergehen und darf dabei nicht von Wolken oder Nebel verdeckt sein. Dann kann es zum kurzen Aufblitzen eines grünen Lichtscheins kommen. Helena meint gelesen zu haben, dass man in Gefühlsdingen nicht mehr irren kann, wenn man diesem Phänomen beigewohnt hat. Also macht man sich auf die Reise entlang der Westküste Schottlands. Des Onkels Hoffnung ist, dass Helena den Wissenschaftler Aristobulus Ursiclos erwählt, doch es kommt anders, denn Helena lernt auf der Reise den romantischen Oliver Sinclair kennen ...
Ein bisschen Abenteuer ist auch noch mit in der Geschichte verwebt. Sonst wäre es wohl auch kein Werk aus der Hand Jules Vernes.

... das bewegte Herz

Jules Vernes Herz schlägt für Landschafts- und Reisebeschreibungen. Und genau das ist die Faszination, die von diesem Buch ausgeht. Die Liebesgeschichte steckt den Rahmen, aber die Natur ist für mich das Herzstück.

... ein Zitat

"Ja, Miss Campbell, was gibt es in der Geschichte der Menschheit Schöneres als diese Entdeckungen? Zum ersten Mal mit Kolumbus den Atlantik überqueren, mit Magelan den Pazifik, mit Parry, Franklin, d'Urville und so vielen anderen die Polarmeere, das sind Träume! Kein Schiff kann ich auslaufen sehen, ob Kriegsschiff, Handelsschiff oder einfaches Fischerboot, ohne dass mein ganzes Wesen an Bord geht."

... die Sprache

Sie ist ein Genuss und verzaubert. Voller Poesie und Liebeserklärungen an die Natur! Und man verzeiht ein paar Klischees, die sich in den Personenbeschreibungen einschleichen.google
"Die Listensammlerin" von Lena Gorelik


Es bleibt in Erinnerung ...


... die Story

Sofia lebt mit ihrer Familie in München, Grischa, Sofias Onkel lebt in Moskau. Beide lernen sich nicht kennen, da sie Jahre und Kilometer trennen.
Sofia erzählt von ihrem Familienleben, beschreibt den Alltag mit Mann, Tochter, Mutter und Großmutter. Sie ist eine sehr nachdenkliche junge Frau, die es nicht leicht hat. Sie schreibt sich alles gerne von der Seele, verfasst Geschichten, später auch einen Roman, aber vor allem sind es "Listen", mit denen sie sich beschäftigt. Schon als junges Mädchen verfasst sie Listen, zum Beispiel Was-wäre-wenn- Listen. Ihre Mutter sucht deshalb mit ihr einen Psychologen auf. Später, als sie schon verheiratet ist, setzt sie das Listenschreiben fort. Für sie ist es ein Weg, Probleme und Ängste zu benennen und anzugehen.
Als die Wohnung ihrer Großmutter ausgeräumt wird, da diese ins Pflegeheim umzieht, tauchen fremde nebulöse kyrillische Listen auf. Es stellt sich raus, dass sie damals von Grischa geschrieben worden sind.
Sie sind etwas anderer Art, dienen aber auch der Bewältigung seines Alltags und Gefühlslebens. Grischa wehrt sich gegen das politische System in der Sowjetunion und bringt damit auch seine Familie in Gefahr. Vor allem engagiert er sich in der Verbreitung verbotener Literatur (Samsidat).
Das verbindende Element zwischen ihrem Onkel in der Vergangenheit und Sofia in der Gegenwart ist das Listensammeln. So umspannt sich die Geschichte einer russischen Familie, die später nach Deutschland umsiedelt.

... das bewegte Herz

Die Liebe zum geschriebenen Wort und zur Literatur im Besonderen. Schreiben als Manifest und zur Konfliktbewältigung. Sich sammeln im wahrsten Sinne des Wortes ...

... ein Zitat

" In der Schule hatte er viele Geschichten über den Krieg gehört und vieles darüber gelernt. Gelernt hatte er, dass die Deutschen Schweine waren ... Seine Großmutter hatte hingegen schon des Öfteren fallenlassen, dass nicht alle Deutschen Schweine waren, und keiner hatte ihr widersprochen. Er selbst hatte das "Glasperlenspiel" verschlungen, nicht nur beim ersten Lesen. Sergej hatte Heine zitiert."

... die Sprache

Sehr angenehm zu lesen. Russische melancholische Anklänge, wenn es darum geht, das Leben sowie das Überleben in Worte zu fassen. Manche Sätze ganz kurz und knapp wie in den Listen. Aber mit ungeheurer Aussagekraft.


Sonntag, 16. März 2014

"König Alkohol" von Jack London


Es bleibt in Erinnerung ...


... die Story

Als Fünfjähriger nippt er an seinem ersten Bier. Zunächst schmeckt es natürlich nicht, aber die Szenerie der geheizten Kneipe, in der Männer in Gesellschaft ihr Bier trinken, ist für ihn von da an schon positiv besetzt. Vor allem als Seemann kehrt er dann immer wieder in Kneipen ein. Zunächst scheut er es, sein sowieso rares Geld dort auszugeben, aber dann gewinnt dieser Ritus Oberhand. Man gibt einen aus und man gehört dazu.
Es kommen aber Phasen in seinem Leben, in denen er oft monatelang nicht trinkt und auch gar nicht das Bedürfnis verspürt. Aber am Ende seiner Erzählung fasst er zusammen, dass es tatsächlich diese Anfänge waren, die ihn dann später zum Alkoholiker haben werden lassen.
Sein ganzes Leben liest sich wie ein Abenteuer. Er war ein ewig Suchender. Vor allem die Suche nach einer Beschäftigung, die ihn erfüllen sollte, zieht sich durch seine Jahre. Zu Beginn sieht er einfach nur zu, dass er das nötige Geld verdient und arbeitet unter anderem in einer Konservenfabrik. Der Verdienst ist gering und die Arbeit macht unglücklich. Daraufhin fährt er zur See und das ist eine Welt, in der er sich wohlfühlt. Doch Kopf und Geist möchten mehr. Nach zwei Jahren Gymnasium fängt er das Schreiben an, kann aber erstmal nicht davon leben. Erst ein paar Jahre später wird er ein bekannter Schriftsteller und findet darin seine Erfüllung. 

... das bewegte Herz

Mein Leserherz war sehr glücklich. Mit ganz viel Verve und schonungsloser Selbsterkenntnis erzählt Jack London aus seinem Leben. Wie gerne habe ich ihm gelauscht, wenn er auf See war, wenn er vom Lesen und Schreiben gesprochen hat, von seiner Suche nach dem Glück und seinem langen Kampf gegen die Alkoholsucht. Ein ganz großes Buch, intelligent und herzenswarm zugleich.

... ein Zitat 

"König Alkohol appelliert an Schwäche und Verfall, an Müdigkeit und Erschöpfung. Er lenkt uns ab. Und dazu lügt er beständig. Er leiht dem Körper Scheinkraft, dem Geist Scheinhöhe, gibt den Dingen einen trügerischen Schimmer, der sie weit schöner erscheinen lässt, als sie sind. Aber man darf nicht vergessen, dass König Alkohol verwandlungsfähig wie Proteus ist. Er naht sich als Helfer dem Schwachen und Erschöpften, als froher Kamerad dem Lebenslustigen und Unternehmenden, als aufrüttelnder Mahner dem Müßiggänger. Er kann jeden auf andere Art am Arm nehmen. Er tauscht alte Lumpen gegen neue, die Flitter der Einbildung gegen die derben Kleider der Wirklichkeit, und schließlich betrügt er so letzten Endes alle seine Anhänger."

... die Sprache

Sehr stark und bildreich. So mitreißend, dass man meint, man sei dabei, wenn das Schiff Kurs nimmt auf die "vulkanischen, bewaldeten Berge der Bonininseln" und "der Duft der fremdartigen Vegetation" heranweht.
Aus der Hand eines wirklich großen Autoren. 

Samstag, 15. März 2014

"Wie ich mir das Glück vorstelle" von Martin Kordic´


Es bleibt in Erinnerung ...


... die Story


Viktor kommt in Bosnien zur Welt, wird in eine Großfamilie hineingeboren und erfährt in ihr viel Geborgenheit. Bei seiner Geburt gibt es Komplikationen. Seine Oma hilft ihm auf recht dramatische Art auf die Welt, doch Viktor bleibt leider behindert. Sein Rücken ist schief und mit seinem Kopf stimmt auch etwas nicht, so wie Viktor sich selber ausdrückt. Viktor ist der Icherzähler in diesem Buch und diese Perspektive bleibt niedlich naiv, auch wenn die Umstände manchmal herzzerreißend sind. Er verarbeitet viele Erlebnisse, indem er sie aufschreibt. Seine Aufzeichnungen machen dieses Buch aus. Er erzählt von seinem liebevollen Zuhause und wie er zur Zeit des Bosnienkrieges eine Trennung von seiner Familie erfährt. Zunächst wird er von einer Gebetsgemeinschaft aufgenommen, später lebt er zusammen mit einem Hund, einem Einbeinigen und einer Rothaarigen in einer Bruchbude am Stadtrand.

... das bewegte Herz

Seine Suche nach dem Glück hat mich sehr bewegt. Gegen Ende des Buches erzählt Viktor die Geschichte einer Elefantenfamilie. Diese demonstriert die Geborgenheit in einer großen Gemeinschaft. Es ist auch das, was er mal gehabt hat: eine Familie, in der einer für den anderen da war.
Bewegend ist auch der Schluss. Da verschwindet Viktor in seiner eigenen Geschichte ...

... ein Zitat

"Die Mutter bringt mich jetzt in eine Bibliothek ... Die Frauen lesen mir Bücher vor. Ich höre zu. Sie lesen mir die Geschichte von dem Jungen vor, der ein Buch liest und in der Geschichte verschwindet, die er gerade liest. Der Junge findet nicht mehr zurück in sein echtes Leben ... "

... die Sprache

Kurze Sätze, so wie ein Junge in Viktors Alter vielleicht denken und schreiben würde.
Und doch blizzt zwischendurch sowas wie Poesie, tauchen zarte Bilder auf, die Viktors Horizont vielleicht übersteigen. Es ist nichtsdestotrotz stimmig, da Martin Kordic´ mit der Erzählperspektive spielt. Ab und an übernimmt die dritte Person die Sichtweise. So auch am Ende ...



Sonntag, 9. März 2014

"Das dritte Licht" von Claire Keegan


Es bleibt in Erinnerung ...


... die Story

Die Geschichte spielt in Irland und wird ausschließlich aus dem Blickwinkel eines kleinen Mädchens erzählt. Ihr Vater bringt sie für die Sommerferien zu Verwandten, um die Mutter zu entlasten, die wieder schwanger ist. Auch gibt es weitere Geschwister zu Hause und die Familie steht sich finanziell nicht gut, da der Vater das knappe Geld auch noch vertrinkt und verspielt.
Das Mädchen verhält sich zurückhaltend und weiß erst gar nicht, mit soviel Zuwendung und Aufmerksamkeit umzugehen. Ganz anders als zu Hause verwendet man viel Zeit auf sie, bindet sie in anfallende Arbeiten ein, schenkt ihr Kleidung und Bücher, fördert und fordert sie so, wie ein Kind es auch braucht. Und sie spürt, sie wird geliebt und fühlt sich nach und nach wunderbar geborgen in dieser Pflegefamilie.
Die Tatsache aber, dass sie ihr Glück gar nicht so richtig fassen kann (und der Leser auch nicht), schürt die Erwartung, dass etwas Schlimmes einbricht. Kleine Andeutungen, dass diese Frau und dieser Mann ein Geheimnis mit sich rumtragen, schaffen Spannung. 
Fast wider Erwarten kommt der Roman dann aber ohne große Dramatik aus. 
Tatsächlich ist das eigentliche Drama dieses Romans die Heimkehr des Mädchens nach Hause. 

... das bewegte Herz

Das ganze Buch rührt das Leserherz, vor allem wie das Mädchen ständig in Erwartung von Unglück lebt. In keinem Moment des Glücks fühlt sie sich sicher. Sie denkt immer, es verlässt sie wieder. 
Sehr trauriges Ende. 

... ein Zitat

"Ihre Hände sind wie die meiner Mutter, aber sie haben noch etwas anderes an sich, etwas, das ich noch nie zuvor empfunden habe und wofür ich keinen Namen weiß. Mir fallen einfach keine Wörter ein, aber das hier ist ein neuer Ort, und ich brauche neue Wörter."

... die Sprache

Von Zartheit, poetisch, still. Ein Genuss.


Tschick" von Wolfgang Herrndorf


Es bleibt in Erinnerung ...


... die Story

Maik und Andrej ("Tschick" genannt) lernen sich in der achten Klasse kennen, können erstmal wenig miteinander anfangen, schmieden dann aber eine kleine Notgemeinschaft. Der abenteuerlustige Tschick nimmt den mit wenig Selbstvertrauen versehenen Maik mit auf eine Reise in die "Walachei". Das alle in einem geklauten Auto und mit eben nur diffuser Zielvorstellung. Zwei jugendliche Außenseiter.Tschick hat nichts zu verlieren (russischer Migrant, lebt alleine mit seinem Bruder, vorbestraft) und Maik kann nur gewinnen. Vermeintlich gut situiert lebt er mit seinen Eltern in einer Villa mit Swimmingpool. Die Mutter hat ein Alkoholproblem und der Vater hat eine Freundin. Maik ist oft alleine, wie auch diesen Sommer.
Die beiden Jungen gehen auf eine hanebüchene Reise mit Verfolgungsjagden und Diebstählen, lernen kuriose Menschen kennen und fassen Vertrauen zueinander und ins Leben. Die Erfahrung, sich auf einen Freund verlassen zu können, kommt es noch so hart, bestimmt den Inhalt dieses Buches. Sich etwas trauen und wenn etwas nicht so klappt, wieder auf die Beine zu kommen. Abenteuerlust, sich abheben, etwas Verrücktes tun, eventuell resultierender Schmerz und hilfreiche Erkenntnis. Sich spüren.

... das bewegte Herz

Das Herz von Maik, der endlich in seinem Leben mal erfährt, was Liebe zu anderen Menschen und zum Leben allgemein bedeutet. Vor allem geht es um Erwiderung, um das Echo, das er erfährt.
Irgendwann liegt er mit Tschick nachts unter einem großen Sternenhimmel und in dieser weiten leuchtenden Pracht hat man das Gefühl, dass er einen Platz für sich gesucht und gefunden hat.
Auch das Ende geht zu Herzen, wenn er in einem verrückten Szenario seiner Mutter näher kommt, man das Gefühl hat, die beiden begegnen sich zum ersten Mal richtig.

... ein Zitat

"Isa hatte ihr T-Shirt noch immer nicht angezogen, und vor uns lagen die Berge mit ihrem blauen Morgennebel, der in den Tälern vorne schwamm, und dem gelben Nebel in den Tälern hinten, und ich fragte mich, warum das eigentlich so schön war. Ich wollte sagen, wie schön es war, oder jedenfalls wie schön ich es fand und warum, oder wenigstens, dass ich nicht erklären konnte, warum, und irgendwann dachte ich, es ist vielleicht auch nicht nötig, es zu erklären.
"Hast du schon mal gefickt?" fragte Isa."

... die Sprache

Schnodderig. Witzig. Passend. Grobe Jugendsprache, die doch mit großer Zärtlichkeit rüberkommt.

"Arbeit und Struktur" von Wolfgang Herrndorf


Es bleibt in Erinnerung ...


... die Story

Wolfgang Herrndorf erhält 2010 die Diagnose: Gehirntumor, bösartig, nicht heilbar. Er stürzt sich in "Arbeit und Struktur", was zunächst als Blog geführt ist und wortwörtlich sagen möchte, dass seine letzten Tage nun Struktur brauchen, damit sie ihm viel Raum viel Dinge geben, die ihm wichtig sind. Er möchte seine angefangenen Bücher noch beenden (z.B. "Tschick") und die Zeit obendrein mit vielen Lesestunden füllen, was wie eine Hommage  an gewisse Werke und Autoren ist. Hervorgehoben werden unter anderem Dostojewski, Stendhal und Nabokov.
Es ist ein so  kluges Buch über Sinngebung im Leben, das Nutzen von Zeit, die Wirkung von Literatur und die Aufrichtung der Seele durch das eigene Schreiben. Er verabschiedet sich langsam und konzentriert und betrachtet den kommenden Tod eingehend. Wolfgang  Herrndorf plant, sich am Ende zu erschießen. Als er all das dem Leben nochmal abgewrungen hat, was ihm wichtig schien, tut er es tatsächlich.

... das bewegte Herz

Es gibt in diesem Buch keinen Moment, der nicht bewegt. Vor allem vielleicht die Ausfälle, Schmerzen, Demütigungen und Operationen, die er in Kauf nimmt, nur um Zeit zu gewinnen.
Die Liebe zur Literatur!

... ein Zitat

"Warum ich? Warum denn nicht ich? Willkommen in der biochemischen Lotterie."
" "Ein Jahr in der Hölle, aber auch ein tolles Jahr. Im Schnitt kaum glücklicher oder unglücklicher als vor der Diagnose, nur die Ausschläge nach beiden Seiten größer."

... die Sprache

Genial. Viele Formulierungen haben mich begeistert und ich habe sie mir notiert. Herrndorf amüsiert und schreibt ausgeklügelt sowie intelligent. Gefühle kommen eins zu eins rüber. Ein großer Erzähler.



Selten  so lange überlegt, welches Zitat (welche Zitate) ich wählen soll. Es gibt so viele bemerkenswerte Stellen in diesem Buch.
Ich beschließe "Tschick" zu lesen.
"Die Hundegrenze" von Marie-Luise Scherer


Es bleibt in Erinnerung ...


... die Story

Nicht nur Mauern, Stacheldraht und Soldaten haben die deutsch-deutsche Grenze bewacht, sondern auch scharfe Wachhunde. In der fünf Kilometer breiten Sperrzone liefen sie an Laufleinenanlagen die gesamte Trasse ab. Dazu unterhielten die Grenzkommandos ein ausgeklügeltes System zur Neubeschaffung von Hunden.
Die Autorin hat dazu detailliert recherchiert und recht  leserfreundlich aus den sachkundlichen Informationen einen kleinen Roman komponiert.

... das bewegte Herz

Die Hunde liefen derart an ihren Leinen, dass Körperkontakt ausgeschlossen war. Sie harrten aus in praller Sonne und eisiger Kälte. Lediglich eine kleine Hütte bot etwas Schutz. Grundsätzlich wurden sie mit Wasser und Fleisch versorgt, aber des öfteren ließ eine organisatorische Panne die Tiere darben.

... ein Zitat

"Tews kannte alle Nuancen des Hundeunglücks. Mit den Jahren entwickelte er sogar ein forschendes Interesse daran. Wurde ein neuer ans Drahtseil gebunden, wartete er auf den Moment, wo dieser sein Schicksal begriff. Der Zurückgelassene saß zuerst mit horchend schiefgelegtem Kopf und sah in die Richtung, in der das Soldatenauto verschwand ... Verlor sich das Autogeräusch, fing er panisch zu rennen an."

... die Sprache

Marie-Luise Scherer hat hauptsächlich als Journalistin gearbeitet. Das ist augenscheinlich. Ihre Sprache verspricht profihafte Präzision und unterhält den Leser trotz alledem sehr lebhaft.