Dienstag, 29. April 2014

"Schroders Schweigen" von Amity Gaige


Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Eric Kennedy sitzt in Untersuchungshaft und weigert sich vorerst, Stellung zu den Anklagepunkten zu nehmen. Stattdessen beschließt er, sich alles von der Seele zu schreiben. Es ist seine Frau Laura, die er anschreibt, wobei zu vermuten bleibt, dass sie es vermutlich nie liest. Eric und Laura sind getrennt und die gemeinsame Tochter Meadow war der Mutter zugesprochen worden. Eric entführt seine Tochter aus Verzweiflung. So die Sprache des Gerichts. Der Leser erfährt in der Erzählung eine ganz andere Sprache: die der Liebe. Eric liebt Meadow wirklich von Herzen und man fühlt mit ihm. Mit Hilfe von Rückblenden erfährt man, was in Erics Leben alles schief gelaufen ist. Vor allem sein Vater spielt diesbezüglich eine große Rolle. Man sympathisiert ein wenig mit Eric, obwohl das Abenteuer, in das er seine Tochter zieht, doch recht haarsträubend ist. 

... das bewegte Herz

Die Gespräche zwischen Vater und Tochter und seine Angst, Meadow für immer zu verlieren. Seine Fassungslosigkeit ob der Ehe, die nicht gehalten hat. Und die Worte der Liebe, die er immer noch für seine Frau findet. 
Sprachlich bewegend verpackt!

... ein Zitat

"Ist es das hier, dachte ich, ist es das, was ich wollte? Dieses zerknitterte, sandige Kind mit einer ungewöhnlich hohen Toleranzgrenze angesichts der verstörenden Wendungen des Schicksals? Mit Gewissensbissen erkannte ich, dass ich nur darauf gewartet hatte zu sehen, ob sie dazu in der Lage wäre, ob sie die Fähigkeit haben würde, die Welt wie ich sie sah, zu tolerieren- ein Durcheinander, ein willkürliches und katastrophales Durcheinander-, und ob sie in der Lage wäre, diese Welt zu ertragen. Da saß sie nun und ertrug sie ...

... die Sprache

Dieses Buch ist in seiner Kombination von Sprache und Aufbau genial. Es schwingt sehr viel Gefühl mit und doch schafft Amity Gaige es, unsäglichen Kitsch zu umschiffen. Meist zumindest.

Samstag, 26. April 2014

"Das Gewicht des Schmetterlings" von Erri de Luca


Es bleibt in Erinnerung ...


... die Story

Zwei Einzelgänger sind müde geworden: ein Wilderer und ein Gamsbock. Es kommt zu einem finalen Duell. Über Jahre hat der Wilderer bereits versucht, diesen Gamskönig zu schießen, aber das kluge und stolze Tier ist ihm stets entkommen. Heute nun ergibt sich der alte Bock. Ein letztes Mal stehen sich Jäger und Tier gegenüber, blicken auf ihre beider Leben zurück, ein Résumé, ein gemeinsamer Abschied ...

... das bewegte Herz

Wie der Gamsbock  bewusst Abschied nimmt vom Leben, ganz stolz und erhaben.

... ein Zitat

"Zurück in der Hütte, machte er Feuer und schöpfte wieder so viel Kraft und Geduld, um den Tag zu einem guten Ende zu bringen. Der Abend vollendet das Rohwerk, das zu frühester Stunde, bei noch dunklem Himmel, begonnen wurde. Der Abend glättet die Ecken und Kanten, gibt dem Tagwerk den letzten Feinschliff."

... die Sprache

Voller Schönheit und Poesie. Besonders anmutig auch die Landschaftspoesie und das Parabelhafte der geschaffenen Bilder.

Dienstag, 22. April 2014

"Die Romantischen" von Pankaj Mishra


Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Samar, zwanzig Jahre und von Geburt Inder, kommt nach Benares. Seine Leidenschaft gilt der Literatur, vor allem den europäischen Klassikern. Die meiste Zeit verbringt er lesend in seinem Zimmer oder widmet sich großen Werken in der Bibliothek von Benares. Er wirkt recht weltfremd und in sich zurückgezogen. Das ändert sich, als er zwei Frauen aus dem Westen kennenlernt, die ihr Glück in der indischen Exotik suchen. Vor allem Catherine bringt ihn aus dem Gleichgewicht, denn sie führt ihn in die Liebe ein, ein Sinnfeld, das ihm bislang unbekannt war. Nach einer Zeit der Verwirrung zieht sie sich aber wieder zurück und Samar fällt in eine Krise. Um wieder zur Ruhe zu kommen, verlässt er die Stadt. Er bezieht ein einsam gelegenes Haus im Gebiet des Himalaya und es ist die Natur, die seine Seele reinigt. Seine neue Lektüre sind Naturführer und er unternimmt lange Wanderungen.
Als Post aus Benares kommt, drängt sich ihm das Gefühl auf, dort etwas Unerledigtes hinterlassen zu haben. Er geht zurück und erlebt von neuem den "schrecklichen, vertrauten Tumult der Erinnerungen", kann aber dadurch mit der Vergangenheit abschließen.

... das bewegte Herz

Seine Glückssuche, sei es in der Literatur, in der Liebe oder in der Natur. All das, was man im Leben Sinnfindung nennt.

... ein Zitat

"Ich hatte mich sehr bemüht, mir mein Leben so einzurichten, wie es war, dazu alle mir verfügbaren Mittel eingesetzt, und an optimistischeren Tagen  konnte ich mir sogar einreden, dass dieses distanzierte, ereignislose Dasein nicht sehr weit entfernt war von der alten brahmanischen Vorstellung von Rückzug, von Erfüllung der Verpflichtung gegenüber den Ahnen, die mein Vater in seinen Briefen immer wieder erwähnte."

... die Sprache

Eine ganz wundervolle, hochpoetische Sprache! Klangvoll und reich. Sehr schöne Landschaftsbeschreibungen.


Pankaj Mishra erhielt dieses Jahr den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2014. Die Preisverleihung machte mich auf diesen Roman aufmerksam, der noch ungelesen in meinem Regal stand.

Montag, 21. April 2014

"Das Huhn, das vom Fliegen träumte" von Sun-Mi Hwang


Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Eine Legehenne mit namen Sprosse ist es müde, stets Eier zu legen, die ihr von der Bauersleuten weggenommen werden. So unglücklich und abgemagert möchte sie nicht weiterleben. Sie sehnt sich nach Freiheit, einem richtigen Nest und Küken, die sie aufziehen kann. Es gelingt ihr die Flucht aus diesem Käfigmartyrium, wonach sie aber erstmal ganz auf sich gestellt ist. Das Leben in Freiheit ist gar nicht so einfach. Unter den Hühnern auf dem Hof herrscht strenge Hierarchie. Es darf noch lange nicht jedes Huhn in die warme und sichere Scheune. Sprosse findet nur einen Freund, die Wildente Sreuner.
Dank dieser Freundschaft kann Sprosse tatsächlich ein kleines Küken aufziehen. Aber Sprosse muss kämpfen. Ein Wiesel macht ihr das Leben schwer und mit ihrem Küken Grünfeder ist es eine ganz besondere Mutter-Kind-Beziehung ...

... das bewegte Herz

Die Muttergefühle des Huhns Sprosse.

... ein Zitat

"Ich kann nicht, sagte Grünfeder unter Tränen und vergrub den Kopf in ihrem Flügel.
Tu, was du tun willst. Finde heraus, was das ist.
Dann bist du ganz allein. Und du kannst nicht in die Scheune zurück.
Ich komme schon zurecht. Ich habe viele gute Erinnerungen, die mir Gesellschaft leisten.

... die Sprache

Es ist die Sprache einer Fabel oder eines Märchens. Es liest sich schön mit all diesen großen Worten wie Träumen, Mut, Liebe, Trauer und Abschied.





"Die Frau aus seinem Buch" von Clémence de Biéville


Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Marge Bérard wächst in einem kleinen Dorf auf, arbeitet in einem Kurhotel und lebt ein stilles, ereignisarmes Leben und träumt derweil von einem aufregenden. Das ändert sich, als der Schriftsteller Georges Bayonne als Gast in dem Hotel auftaucht. Letzterer schreibt Romane, in denen durchweg eine Miss Jay die Hauptrolle spielt. So wie der Zufall es will (oder ist es gar keiner?), verkörpert Marge vollkommen diese Protagonistin.
Sie und George kommen zusammen, heiraten später sogar. Es wird ein Leben, in dem Marge nie weiß, ob sie nun sie selbst ist oder nur die Rolle in einem Roman übernommen hat. Auf jeden Fall empfindet George sie als eine Art Muse, denn er schreibt hochinspiriert einen Roman nach dem anderen. In seinem letzten kommt er durch besondere Umstände zu Tode ...
Marge wird verdächtigt, verhaftet und zu acht Jahren Haft verurteilt.
Toll komponiert, spannend bis zur letzten Seite.
Und doch viel mehr als ein Kriminalroman.

... das bewegte Herz

Es ist nicht unbedingt eine Herzenslektüre. Dafür ist sie zu konstruiert.

... ein Zitat

"Und es war Marge, der er diese Beliebtheit zu verdanken hatte. Noch nie, so schien es, war es in der Geschichte der Literatur vorgekommen, dass ein Autor seine Heldin in Fleisch und Blut kennengelernt hatte. Stellen Sie sich bloß vor, sagte man zu ihm, was wäre, wenn Simenon mit Maigret zusammenträfe! Verstehen Sie! Sie sind wie der Held in einem Roman ...
Bayonne sah Marge verstohlen an ... "

... die Sprache

Überraschend gut. Nicht hochliterarisch, eher schlicht, aber ich habe sie doch gerne gelesen.
"Reise an den Rand des Universums" von Urs Widmer


Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Dieses Buch umfasst die ersten dreißig Lebensjahre von Urs Widmer, geschrieben wie eine Autobiographie, wobei der Autor vorzieht, es "Erinnerungsbuch" zu nennen.
Er teilt diese Jahre in drei Dekaden ein und gibt dem Buch darüber etwas Struktur. Flüssig erzählt er von seinem Elternhaus, seiner Kindheit, den Jugendjahren und vom Studentenleben. Einige Urlaube sind für ihn unvergessen, viele Menschen auch, die er namentlich benennt.
Er beschönigt nichts, spricht gerne vom Glück, gibt dem Unglück aber auch viel Raum. Die depressive Mutter ist für den Jungen eine schwer einschätzbare Bezugsperson, der Vater arbeitet gerne zurückgezogen in seinem Büro, die Tür immer zu. Die Schreibmaschine klappert durch das Haus.
Urs Widmer hat selbst mit Angst- und Panikzuständen zu tun, aber er kommt über diese Zeit hinweg, bleibt ein Glückssuchender.
Nach Tätigkeiten als Lektor (unter anderem im Suhrkampverlag) kommt Urs Widmer endlich selber ans Schreiben. Zurückgezogen sitzt er mit seiner Schreibmaschine auf einem Speicher und plötzlich fließen die Zeilen. Er empfindet großes Glück, spricht gar vom Urknall oder einer Eruption.

... das bewegte Herz

Wie er als Bub mit seinem geliebten Fahrrad unterwegs ist.
Schwelgen in Urlaubserinnerungen.
Und zu guter Letzt, wie er in den Schreibfluss gerät.

... ein Zitat

"Jetzt, endlich, ließ die Maschine jenes rhythmische Trommeln hören, das in mir als fernes Echo lebte und mir zeigte, dass ich das Instrument richtig spielte ...Ich wagte kaum zu atmen- schrieb, spannte ein neues Blatt ein, schrieb weiter ... In meiner Erinnerung habe ich den Text- diese Eruption, die die längste Zeit in meinem Inneren bereitgelegen und auf den richtigen Augenblick gewartet hatte, um ans Tageslicht zu treten- an einem Stück geschrieben, gebannt, erregt, sorgfältig, überrumpelt, wachsam, in heißem Glück."

... die Sprache

Sie versteht es, Landschaften und Gefühle in Worte zu fassen. Und sie steigert sich, so als würde Urs Widmer sich im Laufe seiner Erinnerungsbuches "freischreiben". Wirklich schön zu lesen, manchmal auch etwas schlicht, aber trotzdem gefällig.
"Sterben für Anfänger" von Susanne Conrad


Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Wir beschäftigen uns so lange nicht mit dem Tod, bis wir wirklich persönlich mit ihm konfrontiert werden. Wir klammern ihn aus unserem Leben aus, setzen uns nicht mit ihm auseinander.
So erging es auch Susanne Conrad, bis sie die Diagnose "Brustkrebs" erhielt und obendrein ihre Eltern innerhalb von zwei Jahren beide starben. Sie lernte, dass es not tut, sich mit der eigenen Endlichkeit zu befassen, weil man dadurch auch eine ganz andere Sensibilität für's Leben bekommt. Man erhält eine neue Einschätzung, was wichtig und unwichtig ist und lebt bewusster. Man sollte also nicht bis zum Abschied warten, sondern sich schon vorher mit dem Tod befassen, sich mit ihm vetraut machen.

... das bewegte Herz

Das Abschiednehmen von den Eltern, vor allem die Gespräche. Der Vater und seine Liebe zu Büchern. Und die Hinweise auf große Literatur (Tolstoi, Amos Oz, David Grossmann) und wie in ihr mit dem Tod umgegangen wird.

... ein Zitat

" Für meinen Vater war sein wichtigstes "Übungsfeld" die Literatur, ohne Bücher konnte er nicht sein, sie waren für ihn ein "Lebensmittel". Das war schon so, lange bevor er wusste, dass sein Leben zu Ende ging. Als sein Arzt ihm aber sagte, dass der Krebs wiedergekommen war und metastiert hatte, dass eine Operation keine Option mehr sei und ihm nur eine Chemotherapie noch ein bisschen Zeit verschaffen könnte, warf er sich mit all seiner verbliebenen Kraft in diesen Wettlauf gegen die Zeit. Er quälte sich durch Chemotherapien, ergab sich geduldig der Schwäche, die ihn nach jeder Infusion befiel, nur um sich danach wieder auf seine Bücher zu stürzen. Zuletzt, als er kaum noch vor die Tür gehen und praktisch nichts mehr unternehmen konnte, da waren sie seine ganze Welt, waren ihm Stütze und Trost und Wegweiser bis ganz zum Schluss."

... die Sprache

Susanne Conrad hat Literatur- und Theaterwissenschaften, später noch Germanistik und Philosophie studiert und beim Zweiten Deutschen Fernsehen als Moderatorin gearbeitet. Man spürt, dass sie geübt ist im Umgang mit Sprache.







"Wie keiner sonst" von Jonas T. Bengtsson


Es bleibt in Erinnerung ...


... die Story

Ein Junge und sein Vater führen ein unstetes Leben. Sie ziehen immer wieder um und der Junge geht nicht zur Schule. Die Wohnstädten sind eher ungewöhnlich, je nachdem, wo der Vater gerade Arbeit hat. All diese Unsicherheiten wiegen aber vielleicht nicht so schwer, weil der Vater seinen Sohn bedingungslos liebt, ihm das auch zeigt und ihm ganz viele kleine Weisheiten mit auf den Lebensweg gibt. Gerne erzählt er ihm von einem Märchen mit einem König und einem Prinzen. Der Junge schlüpft auch für sich gerne in Phantasiefiguren, liest oft in Comicheften und träumt sich fort. Als der Vater immer merkwürdiger wird, merkt man, dass sich was anbahnt. Es kommt zu einer Art Attentat.
Im zweiten Teil des Buches lebt der Junge bei Pflegeeltern, die sehr um ihn bemüht sind. Doch er ist ein recht schwieriges, auffälliges Kind. Später kommt er bei einer älteren Dame unter. Wie sein Vater verdient er sich sein Geld  mit Gelegenheitsarbeiten. Immer wichtiger wird für ihn die Kunst des Zeichnens und Malens. Begonnen hat er damit bereits als Kind und es beibehalten, denn auf diesem Wege verarbeitet er viel.
Er bleibt auf der Suche nach seinem Vater und findet ihn auch. Leider sind die Umstände recht traurig und es kommt zu einem eher erschreckenden Ende. Trotzdem endet das Buch nicht hoffnungslos. Alles bleibt ein bisschen offen. Der Schlusssatz "Ich werde eine Zeit lang hierbleiben" sagt alles: der Junge ist es gar nicht gewohnt, dass irgendwas für immer ist.

... das bewegte Herz

Die Verbindung von Vater und Sohn. Später geht der Junge ganz ähnlich liebevoll mit seiner Schwester Clara um.

... ein Zitat

"Nachts träume ich von einem Kohlestift, der so klein ist, dass ich ihn nur mit den Fingerspitzen halten kann. Ich werde die ganze Welt zeichnen, sonst gerät sie aus den Fugen."

... die Sprache

Kurze Sätze. Nüchterne Sprache. Aber sie scheint passend. Anfangs mochte ich sie nicht, aber ich habe mich reingelesen. Manchmal brannte zwischen den vermeintlich kühlen Zeilen ein kleines Feuer ...