Samstag, 22. November 2014

"Herkunft" von Botho Strauss

"Das Gedächtnis ist eine Variable der Sehnsucht ..."



Es bleibt in Erinnerung ...


... die Story

Wie ein "Schaufelsklave" wühlt der Autor in seinen "Gedächtnishalden", um die eigene Kindheit aufziehen zu lassen. Die elterliche Wohnung in Ems wird aufgelöst und aus zahlreichen Winkeln werden Gegenstände gezogen, die "Herkunft" bedeuten. Diese gewinnt nun an Gewicht, da alles in Auflösung ist. Botho Strauss erinnert sich des strengen korrekten Vaters und seiner Marotten, zollt ihm aber nach all den Jahren sehr viel Respekt und Dankbarkeit. 
Erinnerung bedeutet, dass man sich Versäumtem und Verlorenem stellt. Als Heranwachsender gibt man sich oft sperrig, nimmt die Eltern eingeschränkt wahr, empfindet sie als veraltet, geht dem Vater, der einem "aufrecht und unzeitgemäß" auf seinem täglichen Frühspaziergang entgegen kommt, sogar aus dem Weg. Noch als dieser stirbt, ist Botho Strauss "zum Vorwärtsblicken unterwegs", trauert nicht wirklich. 
Dieses Buch ist sowas wie eine Liebeserklärung an den Vater posthum. 
Weitere Gedankensplitter gelten der Schule, dem Lehrer, der Deutschlektüre, Theatervorstellungen und dem Spiel mit Freunden. Schwimmen in der Lahn, Murmelspielen, Stelzenlaufen. Jahre später erstes verschämtes Küssen.

... das bewegte Herz

Vor allem die Beziehung zum Vater bewegt. Gerne erinnert er sich der Hände des Vaters, die strafend sein konnten, aber die dem Jungen auch "die ersten Blumen gewiesen" haben "und die erste Zeile im Buch". Erst mit dem Abstand der Jahre öffnet sich das Gewesene als "Blüte Kindheit".

... ein Zitat

"Erst langsam bin ich dann hineingewachsen in deinen Tod und diesen umfassenden Sinn für Vermissen. Er wird der eherne Ring, der mein Bewusstsein erschloss. Wenn ich dich sehe in all deinem Tod, nur noch erschöpfte Seele und gutmütig, als hätte die Unterwelt dir den Verstand und die Bosheit geraubt. Du einzige Quelle meiner Erinnerung. Nie hätte ich mich irgendeines Geschehens erinnert ohne deine Schule der Erinnerung. Alles was war, wurde Gewesenes durch dich."

...die Sprache

Teils in einem etwas ältlichen Stil, der sich aber einschmiegt und gut passt. Eine ganz dichte, poetische Sprache mit Wortschöpfungen, die Freude bereiten. "Einstweh" und "verstehensmüde" habe ich gerne notiert.

Freitag, 21. November 2014

"Der Tänzer" von Colum McCann

"Bei ihm war es mehr eine Suche nach etwas jenseits des Tanzes, ein Sehnen nach dem, was den Menschen ausmachte."


Es bleibt in Erinnerung ...


... die Story

Dieses Werk greift sich den großen Tänzer Rudolf Nurejew und spinnt um dessen Karriere zauberhafte Begebnisse, die schließlich ein harmonisches Ganzes ergeben. Der Autor verwebt Biographisches mit seiner eigenen Phantasie und schafft einen mehr als bemerkenswerten Roman. McCann bedient sich verschiedener Perspektiven sowie Erzählstilen. Meistens wird aus der Warte von Menschen erzählt, die ihm nahe standen, da wären seine Schwester oder Julia, die Tochter von Rudiks alter Tanzlehrerin, später auch seine Haushälterin Odile. Kommt Rudik selber zu Wort, wechselt die Sprache zu kürzeren Einschüben, so als hätte er Tagebuch geschrieben.
All diese Elemente lassen ein Kaleidoskop an Eindrücken entstehen.

Während eines Auslandsauftritts in Paris nutzt Rudik die Gelegenheit sich abzusetzen und im Westen zu bleiben. Seine Familie leidet sehr darunter, muss Repressalien und Armut aushalten, während Rudik sich in Glanz und Extravaganz sonnt. Der Leser lernt einen ehrgeizigen jungen Mann kennen, der sich nicht nur Freunde macht. Egoismus, ausschweifend gelebte Homosexualität und eine gewisse Oberflächlichkeit werden ihm nachgesagt. Aber der Leser erfährt ihn auch als liebevollen Familienmenschen, vor allem am Ende des Romans, als er ein Visum für achtundvierzig Stunden erhält und nach Hause kommt.

... das bewegte Herz

Es sind in der Hauptsache die Nebendarsteller, die mich bewegen. Sie müssen in einem System ausharren, das Verfolgung und Armut bedeutet und sie schaffen sich Kleinode in ihrer Leben, die ihnen Halt geben.
Die Liebe zum Tanz (allen Widerständen zum Trotz) bewegt ebenfalls und der Besuch von Rudik, als es fast schon keine Hoffnung mehr gibt.

... ein Zitat

"... du siehst ihn ständig lesen, denn Puschkin hat ihm gesagt, dass er, wenn er ein großer Tänzer werden will, die großen Romane und Erzählungen kennen muss, und so sitzt er im Hof und beugt sich über Gogol, Joyce, Dostojewski; du siehst, wie er sich den Seiten entgegenbiegt ..."

... die Sprache

Sie fesselt, da sie mit dem Leser spielt. Es sind unterschiedliche Schwingungen spürbar je nach Perspektive. Aber nie geht die Poesie verloren und immer spürt der Leser eine Sprache, die ihn einnimmt und bewegt.


"Ich möchte lieber nicht."


"Bartleby, der Schreibgehilfe" von Hermann Melville



Es bleibt in Erinnerung ...


... die Story

Es ist die Geschichte eines Anwalts und seines Schreibers Bartleby, der mehr und mehr seine Arbeit verweigert. Das tut er stets ausgesprochen freundlich mit den Worten "Ich möchte lieber nicht." Der Anwalt ist zu Beginn noch sehr nachsichtig, sucht nach Erklärungen und Entschuldigungen, warum der seltsame Mitarbeiter sich zunehmend zurückzieht. Schließlich kommt es doch zur Kündigung, aber Bartleby verbleibt einfach in der Kanzlei. Der Anwalt beschließt umzuziehen. Später kommt ihm zu Ohr, dass der neue Besitzer ihn von der Polizei hat abholen lasse und Bartleby nun im Gefängnis einsitzt. Der Anwalt besucht ihn und erfährt, dass Bartleby auch dort alles verweigert. Er möchte lieber nicht essen ... und stirbt schließlich.

... das bewegte Herz

Die Not dieser beider Menschen. Der äußerst geduldige und liebenswürdige Anwalt, der eigentlich helfen möchte und Bartleby, sichtlich vereinsamt und verstört.

... ein Zitat

"Bartleby freundschaftlich behandeln, ihm in seiner seltsamen Eigenwilligkeit entgegenkommen, das würde mich wenig oder nichts kosten, wohingegen ich in meiner Seele einen Schatz aufhäufe, der sich zu guter Letzt als süßer Gewissenstrost erwiesen wird.- Jedoch herrschte diese Stimmung nicht ständig bei mir vor.

... die Sprache

Gut und leicht zu lesen. Und doch von sprachlicher Schönheit. Ein bemerkenswerter Klassiker.






Dienstag, 11. November 2014

"... fügte er mit unergründlicher Sanftmut hinzu: "Der Hahn wird nicht verkauft."


"Der Oberst hat niemand, der ihm schreibt" von Gabriel García Márquez

Es bleibt in Erinnerung ...


... die Story

In diesem kurzen Roman erzählt Gabriel Garcia Márquez die Geschichte eines ehemaligen, inzwischen stark gealterten Militäroberst in Südamerika. Dieser wartet seit vielen Jahren auf seine Pension, die ihm als Bürgerkriegsveteran zusteht. Vergeblich hofft er Woche für Woche auf das so sehr benötigte Geld, denn er und seine Frau leiden großen Hunger. Ab und an verkaufen sie Dinge aus ihrem Haushalt. Was der Oberst aber nicht hergeben möchte, ist der Kampfhahn, den sein Sohn hinterlassen hat. Der Hahn ist das Sinnbild für seinen Kampf im Leben, für die Hoffnung und das Nichtaufgeben.

... das bewegte Herz

Die Hoffnung des Oberst, wenn er Freitag auf das Postschiff wartet und die schriftliche Zusage seiner Pension ersehnt. Er und seine Frau, ihre Gespräche, ihr Darben, ihre Liebe, die auf eine große Probe gestellt wird.

... ein Zitat

"Illusionen sind nicht essbar", sagte die Frau. "Sie sind nicht essbar, aber sie ernähren" erwiderte der Oberst.

... die Sprache

Wenn die Sprache auch ganz klar und knapp ist und sich eher kurzer Sätze bedient, ist sie reich an Botschaft und Bildern. Sie lässt bereits erahnen, welche Sprachkunst Gabriel Garcia Márquez zu entwickeln vermag. Dieses ist einer der frühen Romane des Autoren.


"Fremde küssen sanft wie Falter, dachte sie."


"In der Haut eines Löwen" von Michael Ondaatje


Es bleibt in Erinnerung ...


... die Story

Kanada in den zwanziger und dreißiger Jahren:  Einwanderer bevölkern das Land, wagen einen Neuanfang. Michael Ondaatje gibt ihnen Raum, schildert Einzelschicksale. Und doch sind sie nicht für sich, denn der Autor ersinnt Schnittstellen und lässt seine Figuren an diesen zusammenkommen. Sie streifen sich, sie verlieben sich, sie planen, morden manchmal und gehen auch wieder auseinander.
Der Schriftsteller schafft Szenen, die dem Leser unvergesslich bleiben. Da sind Patrick und Hazen Lewis, die gemeinsam eine Kuh retten, die ins Eis eingebrochen ist oder verkeilte Baumstämme mit Hilfe von Sprengstoff voneinander lösen. Und ich erinnere mich an Nicholas Temelcoff, der die von einem Viadukt stürzende Nonne rettet. Bilder so stark, so eindrucksvoll. Sie ziehen mich in ihren Bann, lassen mich nicht mehr los.
Aber das Buch hat auch seine Längen. Der Leser lechzt nach weiteren Szenen, die ihn betören, aber manchmal bleibt er streckenweise etwas verloren. 

... das bewegte Herz

Das Herz schlägt für die Figuren und die unvergleichlichen Schauplätze. Und ich habe mein Herz an Ondaatjes Sprache verloren.

... ein Zitat

"Was in Patrick von der Kindheit zurückblieb, waren die in den Briefkästen festgefrorenen Briefe nach Eisstürmen. Woran er sich erinnerte, war, dass er nur die Dinge liebte, die mit Farben zu tun hatten, dass er alles Weiße hasste; er trat in das warme, braune Universum der Scheunen, aus denen der Atem und der Dampf des Viehs quoll, der beißende Dung- und Uringeruch, den er sich auch noch mitten in Toronto ins Gedächtnis rufen konnte. Dieser Geruch hatte majestätisch über seiner ersten Verführung im Heu gelegen ..."

... die Sprache

Ausnehmend poetische Sprache, die den Leser verzaubert. Ein ganz eigener Ton, der reiche Bilder entstehen lässt.







Sonntag, 2. November 2014

"... meine Lust am Spiel mit Buchstaben wie vor Jahren, als ich, gerade des Lesens und Schreibens kundig ...


"Spiel der Zeit" von Ulla Hahn



Es bleibt in Erinnerung ...


... die Story

Hilla Palm, die Tochter eines einfachen Arbeiters, aufgewachsen in Dondorf am Rhein, lebt in dem nun dritten Teil der Trilogie von Ulla Hahn, als Studentin in Köln. Nachdenklich, aber doch lebenslustig und vor allem strebsam: dem Germanistikstudium verschrieben, verspürt sie Liebe zu Klang- und Ausdruckskraft von Sprache. Wie schon im ersten und zweiten Band ("Das verborgende Wort" und "Aufbruch") spielen Hilla (und Ulla Hahn!) gerne mit Wörtern, betten sie in Lautmalereien und Gedichte.
Hilla lernt zu Beginn des neuen Romans Hugo kennen, einen wahren Seelenverwandten, was die Literatur betrifft. Was die Liebenden trennt, ist Hugos Elternhaus, stammt er doch aus einer großbürgerlichen reichen Familie, die die Nase allzu hoch trägt und Hilla alles andere als mit offenen Armen aufnimmt.
Wieder also muss Hilla sich mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen, auch mit ihrer erzkatholischen Erziehung, doch gelingt es ihr sehr gut, das Elterhaus ins Licht der Liebe zu rücken, formuliert durchweg Verständnis für die Strenge ihres Vaters, seitdem er zu einem Vertrauten geworden war.
Hilla und Hugo leben die "68er", die Zeit der Hippie- und Haschparties, der Studentenunruhen, Sitzblockaden, Ostermärsche und Demonstrationen gegen die Notstandsgesetze und den Vietnamkrieg. Im Mittelpunkt auch die fehlende Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit in der deutschen Politik.

... das bewegte Herz

Szenen aus dem Dondorfer Familienleben und die Liebe zur Sprache, gar zum einzelnen Wort, das hin- und hergedreht viel Freude bringt.

... ein Zitat

"Wir ließen uns von den Wörtern führen, verführen, an die Hand nehmen, über-hand nehmen, weiter- und wegführen vom Sinn zum Un-sinn, zur Überraschung. Wir entdeckten den Reiz der Laute, die mutwillige Lust, den Wörtern den Sinn zu rauben, sie zu ertauben, den Zusammenhang zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem zu zerstören und neu zu schaffen, eine Sprachgemeinschaft nur für uns beide."

... die Sprache

Der Leser spürt, dass Ulla Hahn eigentlich Lyrikerin ist. Gedichte sind ihre Stärke und es gibt in ihrem Buch viele prosaische Stellen, an denen ein Gedicht verloren gegangen scheint.
Gewöhnungsbedürftig ist der köllsche Dialekt, dem manchmal zuviel Platz eingeräumt wird. Wird er über etliche Zeilen gesponnen, gefällt er mir nicht mehr.
Doch das fast schon geflügelte Wort "Lommer jonn", ein Ausspruch des Großvaters, mit dem der Roman beginnt, ist gleichsam Herz und Motto. Kurz, kraftvoll, schön.