Sonntag, 28. Dezember 2014

"Ein fabelhafter Lügner" von Susann Pásztor

"Wir sind eine Familie von Geschichtenerzählern ..."




Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Es ist ein Buch über Familie und Identität, es geht gar nicht mal vorrangig um die Problematik Holocaust. Der Autorin gelingt es aber sehr gut, beides in diesem Roman zu verweben. Der leichte Ton überwiegt und vielleicht ist es gerade das Schwerelose, das gefällt.
Erzählt wird aus Sicht der sechzehnjährigen Lily, die zusammen mit ihrer Mutter zu einem außergewöhnlichen Familientreffen fährt. Lilys Großvater Józsej Mólnar hätte seinen 100. Geburtstag gefeiert. Seine verbliebenen Kinder möchten diesen zusammen begehen und nutzen das Treffen, um ihn aufleben zu lassen, diesen fabelhaften Lügner ....
Joschi, wie er genannt wird, genoss es fantasievolle Geschichten zu erzählen, so dass seine drei Kinder sich ihr Leben lang fragen mussten, wie groß der Anteil an Wahrheit wohl gewesen ist. Fest steht, dass sie alle eine andere Mutter haben und dass Joschis zweite Frau zusammen mit zwei seiner Kinder im Konzentrationslager Buchenwald umgekommen sind. Joschi selber soll dort auch interniert gewesen sein.
Das ist der Anlass, warum seine Kinder (inzwischen im Erwachsenenalter) zusammen mit Lily das Konzentrationslager aufsuchen und in gedrückter Stimmung das Gelände und die Ausstellung besichtigen.
Des Nachts kehren sie nochmal zurück und lassen neben der Gedenkstätte zehn Laternen in den Himmel steigen. Die Szene berührt, ist aber doch so tragikomisch geschildert, dass man als Leser sogar amüsiert zurück bleibt.

... das bewegte Herz

Als die drei Kinder Joschis sich einander annähern, jeder was vom Vater zu erzählen weiß und dieses Puzzle sie verbindet. Wie es ihnen gelingt, aus dem Lügner und Betrüger einen charmanten, liebenswerten Mann werden zu lassen. Die Vergangenheit wirft gewissermaßen ein schmeichelndes Licht.
Und die Szene des Nachts, als die Laternen in den Himmel gelassen werden. Sie hat mich ebenfalls sehr bewegt.

... ein Zitat

"Aber dafür bin ich etwas anderes losgeworden, sagte Hannah, und auf einmal sah ihr Gesicht verändert aus, viel weicher und verletzlicher als sonst. "Nämlich die ganzen Geister, die ich mein Leben lang mit mir herumgetragen habe. Ich habe sie heute Nacht davonfliegen sehen, einen nach dem anderen. Es waren mehr als zehn das könnt ihr mir glauben ... Es waren nicht nur die Geister aus meinem privaten Familienalbum, sonder auch die Geister aus meinen Fotobänden und die Geister aus meinem Kopf. Ich habe mich von ihnen verabschiedet und sie ziehen lassen."

... die Sprache

Flott, mit Sprachwitz, unterhaltend, gut zu lesen. Leichtfüßig, trotz der Schwere des Themas. Doch nicht trivial, wie einige Stimmen behaupten.



Samstag, 27. Dezember 2014

"Das Leben ist etwas Schimmerndes ..."

"Der Wintergast" von Elisabeth Binder



Es bleibt in Erinnerung ...


... die Story

Der gestrauchelte Künstler Andreas kommt für vier Monate in ein kleines italienisches Bergdorf, um dort in einer Vogelauffangstation zu helfen. Das Leben hat ihn verletzt, genau wie den Adler, der im Palazzo gesund gepflegt wird. Es gibt keine ausschweifende Handlung in dem Roman, vielmehr lernt man nach und nach einige Dorfbewohner kennen und erfährt deren Gedanken und Nöte. Das Ganze wirkt wie ein Mehrakter, in dem verschiedene Schauspieler sich auf einer Bühne begegnen und wieder auseinander gehen. Die "Berührungen" sind eher flüchtig. Es wirkt recht konstruiert, bietet aber doch ein harmonisches Ganzes. Andreas macht in den vier Monaten eine Entwicklung durch, gesundet gewissermaßen und besinnt sich wieder auf seine Künstlerseele. Zum Ende des Romans steigt Andreas ins Postauto und fährt zurück nach Hause.

... das bewegte Herz

Andreas' Begegnung mit dem Adler und wie er dadurch zur Kunst zurückfindet. Die Wahrnehmung der Natur als Muse und Lebenselixier.

... ein Zitat

" Denn sie wollte ja noch ein wenig leben. Weiterleben.Wozu? Keine Ahnung. Einfach leben. Im Licht. Mit dem Wasser, den Steinen, den Flechten, dem Gras, den kahlen Bäumen, den Dohlen hoch oben, die die Felsen entlang streichen. Jetzt, wo der Frühling wieder kommt."

... die Sprache

Eigenwillig. Die Autorin setzt auffällig viele Klammern. Diese stören mich im Lesefluss. 
Ausgeprägte Symbolik. 
Die Poesie ist nicht immer ganz gelungen (wirkt schon mal etwas aufgesetzt). Aber im Ganzen ansprechend. 




"Die glücklichen Tage" von Laurent Graff

"Ich habe versucht, ins Innere der Dinge zu schauen ..."




Es bleibt in Erinnerung ...


... die Story

Antoine beschließt mit achtzehn Jahren, sich eine Grabstelle zu kaufen. Seine Intention ist, sich schon früh mit dem Tod zu beschäftigen, da das Leben sowieso keine andere Perspektive als die des heraneilenden Endes bietet. Antoine entwirft sogar Inschriften für seine Grabplatte, gibt sie in Auftrag und hortet die Entwürfe zu Hause. Sie reichen von schwarzem Humor bis hin zu echter Lebensverachtung.
Zunächst versucht er ein "normales" Leben zu führen, heiratet und bekommt zwei Kinder. Mit fünfunddreißig verlässt er nach einer Erbschaft seine Familie und zieht in die Seniorenresidenz "Glück im Winkel". Dort möchte er sich gewissermaßen zum Tod hin treiben lassen und verbringt die Zeit damit, die alten Menschen zu beobachten und über die Vergänglichkeit zu grübeln.
Eines Tages kommt die krebskranke Mireille ins Heim und Antoine beschließt, sie bis zu ihrem Tod zu begleiten. Als Mireille den Wunsch äußert, nochmal ans Meer zu fahren, macht Antoine sich mit ihr auf den Weg.
Antoine ist recht schwermütig, aber dem Autoren gelingt ein burlesker Ton. Der rückt den Protagonisten in ein zuweilen recht witziges Licht.

... das bewegte Herz

Sein morbider Blick auf's Leben.
Und als Mireille sich am Meer an ihn klammert.

... ein Zitat

" Ich habe Bänke immer geliebt. Sie sind das Sinnbild des Rückzugs, der richtige Platz, um Abstand zu gewinnen, um eine friedliche Randexistenz zu führen. Sie bilden einen privilegierten Beobachtungsposten, einen bequemen Zufluchtsort, und für diejenigen, die ihn zu nutzen wissen, einen Freiraum am Wegrand. Ich habe viele Stunden auf Bänken verbracht und dort über die Welt nachgedacht."

... die Sprache

Sehr ansprechend. Lakonisch. Der Stil ähnelt ein wenig dem Genazinos.


Dienstag, 16. Dezember 2014

"Den Oridongo hinauf" von Ingvar Ambjornsen

"... alles liegt ein wenig jenseits der Worte."





Es bleibt in Erinnerung ...


... die Story

Erzählt wird die Geschichte von Ulf, der fünfzigjährig von Oslo zu seiner Brieffreundin Berit nach Norwegen ans Meer zieht. Zunächst ist der Leser verwirrt, denn er erfährt auch, dass Ulf eine Reise "den Oridongo hinauf" unternommen hat. Doch man versteht: es ist nur ein Bild. Ulf hat Schlimmes durchgemacht, ein beschwerlicher Weg den schwarzen Strom hinauf, durch dichten Dschungel, Einsamkeit, Fieber, Unverträglichkeit, Melancholie ...
Berit nimmt Ulf bei sich auf, schenkt ihm Liebe und Vertrauen. Beide arrangieren sich auf liebevolle Weise, Ulf weint oft "vor Dankbarkeit".
Als ein Zwölfjähriger Junge im Dorf verschwindet und verwirrt wieder auftaucht, ist es Ulf, der Zugang zu ihm findet. Die beiden ähneln sich, neigen zum Einzelgängertum und zum Verstummen, sobald Probleme nicht bewältigt werden können. Ulf erkennt sich in dem Jungen wieder und muss sich nochmal seiner Vergangenheit stellen.

... das bewegte Herz

Ulf bewegt, sein Ankommen und Bleibenwollen, seine Verbundenheit mit Norwegen und seine zarte, behutsame Liebe zu Berit. Und die quälende Vergangenheit, die er eigentlich hinter sich gelassen hat, die aber immer wieder in die Gegenwart reinreicht.

... ein Zitat

"Und alles schmeckt hier draußen und hier oben viel stärker, Käse, Brot, Wurst und Kaffee, vermischt mit der Luft von Meer und Gebirge, und ich kaue und werde von dieser Natur überwältigt, die mich fast, aber nur fast, an einen milden Schöpfer glauben lässt, ein ästhetisches Genie, das mir bei allem hier wohlwill, dem blanken Meeresspiegel und den Tausenden von Inseln nach Norden und Süden, einer ganzen Welt aus Inseln, unbewohnten Felsen und Inseln mit vielleicht einem einzelnen Hof, vielleicht nur einem Bootsschuppen, oder glatten Steinen, wie Walrücken im Meer, wo der Kormoran sitzt und sich die Flügel trocknet ... und tief unter mir ... das kleine, weiß angestrichene Haus, das zu meinem Zuhause geworden ist."

... die Sprache

Sehr warme, zärtliche Sprache. Stark, wenn es um Stimmungen und das Beschreiben von Landschaft geht. Reich an Poesie.


Freitag, 12. Dezember 2014

"Der Distelfink" von Donna Tartt

"Wir können dem, was wir sind, nicht entrinnen."



Es bleibt in Erinnerung ...


... die Story

Es ist die Geschichte des Icherzählers Theodore Decker, der ohne Reisepass in einem Amsterdamer Hotel haust und vorerst nicht weiter weiß... So beginnt dieser seitenstarke Roman. Im Rückblick erfährt der Leser Theodors Geschichte, beginnend im Metropolitan Museum, das Theo dreizehnjährig mit seiner Mutter besucht und in dem letztere bei einem Bombenattentat ums Leben kommt. Aus den Trümmern birgt Theo den Distelfinken, das berühmte Gemälde von Fabritius. Diese Geschehnisse stellen sein Leben auf den Kopf. Zunächst wird er von der Familie eines Schulfreundes aufgenommen, später holt sein Vater ihn nach Las Vegas. Nach dem Tod des Vaters geht Theo zurück nach New York. Stets führt er gut versteckt den Distelfinken mit sich. In New York arbeitet Theo als Antiqitätenhändler, dient auch unlauteren Geschäften und bekommt sich und sein Leben oft nicht ohne Drogenkonsum in den Griff.
In Amsterdam kommt es nach fast tausend Seiten zu einem finalen Showdown im Verbrechermilieu. Für mich knickt das Buch an dieser Stelle etwas ein, aber Donna Tartt führt ihre Erzählung insofern wieder ans Licht, da sie Theo in dem Hotel innehalten und sein Leben im Rückblick betrachten lässt. Es ist überhaupt die Stärke der Autorin, alle Handlungen in einen großen philosophischen Rahmen zu spannen. Das Leben ist ihr eigentliches Thema, was macht die Zeit mit uns, was haben wir selber in der Hand? Es geht um Verlust, Obsession, Schicksal, die Kraft der Freundschaft, den Schmerz der Täuschung und um die Kunst als Angelpunkt.

... das bewegte Herz

Der Verlust der Mutter und seine sich anschließende Heimatlosigkeit. Wie Theo sich an Menschen heftet, die ihn erden können, allen voran Pippa, Hobie und Boris. Seine Suche nach Halt, Sinn und Liebe.

... ein Zitat

"Um die Welt überhaupt zu verstehen, konnte man sich manchmal nur auf einen winzigen Ausschnitt davon fokussieren und sehr angestrengt betrachten, was in der Nähe war, um es dann für das Ganze zu nehmen. Aber seit das Bild mir unter den Händen verschwunden war, fühlte ich mich wie ertrunken, ausgelöscht von der Unendlichkeit - nicht nur der erwartbaren Unendlichkeit von Zeit und Raum, sondern auch den unüberbrückbaren Distanzen zwischen zwei Menschen, die auf Armlänge voneinander entfernt waren ...
... und mein Bild war fortgerissen von dieser machtvollen Strömung und trieb irgendwo da draußen umher: ein winziges Fragment des Geistes, ein matter Funke, dümpelnd auf einem dunklen Meer."

... die Sprache

Von selten reichem Wortschatz, von schier unermüdlicher Lust zu erzählen.