Dienstag, 26. Mai 2015

"Der englische Patient" von Michael Ondaatje


            " Wörter sind komplizierte Dinge, viel komplizierter als Geigen ..."

Es bleibt in Erinnerung ...

Der Roman nimmt uns mit in eine alte toskanische Villa, in der Hana, eine kanadische Krankenschwester, zum Ende des zweiten Weltkriegs einen verbliebenen Schwerverletzten pflegt. Dieser englische Patient hat bei einem Flugzeugabsturz in der Wüste Afrikas schlimmste Verbrennungen erlitten und liegt unbeweglich in einem Kokon aus Verbänden in einem Zimmer des herrschaftlichen Hauses. Hana, die selbst Bücher liebt, vertreibt ihm die Zeit, indem sie ihm oft stundenlang vorliest. In der Villa sind ebenfalls David Caravaggio, der im Krieg als Alliiertenspion tätig gewesen ist und Kip, ein Bombenentschärfer zu Gast. Jeder in dieser kleinen Gesellschaft hat etwas Geheimnisvolles an sich und in Rückblenden lernen wir diese vier Menschen näher kennen. Oft sind es nur kurze Episoden und Fragmente und die schnellen Szenenwechsel und wechselnden Erzählperspektiven verlangen dem Leser viel Aufmerksamkeit ab. Zunächst wirkt dieses komplexe Werk sperrig und unverständlich, aber es tun sich Weiten auf, die das Leserherz vollends erreichen.
Selten ist es ratsam, erst den Film zu sehen und dann das Buch zu lesen, aber bei diesem Werk möchte ich es fast empfehlen. Die Bilder, die man noch im Kopf hat, stellen sich sehr angenehm beim Lesen ein, nehmen aber nichts vorweg.

... das bewegte Herz

Die Innenwelten der Figuren. Michael Ondaatje taucht mit sprachlicher Brillianz in sie ein. Und die Faszination der Wüste hat sich mir erschlossen. Schöne Bilder, bewegt erzählt. 

... ein Zitat

"Er wendet ihr sein dunkles Gesicht mit den grauen Augen zu. Sie fährt mit der Hand in die Tasche. Sie schält die Pflaume mit den Zähnen, entfernt den Kern und schiebt ihm das Fruchtfleisch in den Mund. Er flüstert wieder, zieht das lauschende Herz der jungen Krankenschwester an einer Seite dorthin, wo sein Geist gerade weilt, in jenen Brunnen der Erinnerung, in den er während der Monate vor seinem Tod immer wieder eintauchte. Manche der Geschichten, die der Mann ruhig in das Zimmer hinein erzählt, gleiten wie Falken von Schicht zu Schicht."

... die Sprache

Die Sprache gleicht mal einem Wüstensturm, mal Hanas Stimme, sie lässt uns Hitze und Sand erfahren, nach einem Glas Wasser dürsten, die Sehnsucht nach Liebe spüren und Bücher einatmen. Michael Ondaatjes Sprache ist voller Klang und Posie und verrät, dass dieser begnadete Schriftsteller auch in der Lyrik zuhause ist.

Vor einigen Jahren habe ich dieses Buch abgebrochen, da es sich mir nicht auf Anhieb erschließen wollte. Nun möchte ich weitergeben, dass die Mühe lohnt. Ich bin hochbeglückt aus dem Buch wieder aufgetaucht. Ein wahres Leseerlebnis!

Montag, 25. Mai 2015

"Die Entzifferung der Schmetterlinge" von Stefan aus dem Siepen


"Alles, was ihm zu seinem Glück und Unglück nötig war, trug er in sich selbst."

Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Es ist die Geschichte von Peter Nauten, einem sonderlicher Einzelgänger, der das Leben sehr zögerlich angeht. Stets etwas verträumt entwickelt er sich bereits in seiner Kindheit und Schulzeit zu einem Außenseiter. Gerne zieht er sich zurück und verliert sich in Büchern. Nach der Schule wählt er den Studiengang "Alte Sprachen", lässt sich aber Zeit mit seinem Studium und als sein Vater stirbt, muss er gar abbrechen, da seine Mutter es nicht mehr finanzieren kann. Er kommt als Sachbearbeiter in einer Versicherung unter, doch seine "Antriebslosigkeit" und "gedämpfte Art"geraten der Firma sehr zum Nachteil und Nauten erhält die Kündigung. Auch der Versuch, sich in Trixi zu verlieben, zu heiraten und ein gemeinsames Zuhause zu schaffen, gelingt nur für kurze Dauer. Nautens nächster und letzter Job ist der eines Kellners, eine Arbeit, die ihm durchaus liegt. In seiner Freizeit entwickelt er unerwarteten Ehrgeiz und erforscht mit viel Akribie Schriftmuster auf Schmetterlingsflügeln und Muscheln. In seiner Vorstellung sind diese zu entziffern, aber sie erschließen sich ihm letztendlich nicht. Als er von seiner Mutter ein Häuschen auf Wangerooge erbt, wählt er das Inselleben. Die letzten Seiten im Buch bringen es nochmal auf den Punkt: Nauten lässt sich treiben und weiß nicht wohin ...

... das bewegte Herz

Das Herz schlägt für den Protagonisten, der unfähig ist, sich in der Welt einzurichten, dem es aber gelingt, sich ein inneres "ideelles Reich" zu schaffen.

... ein Zitat

"Zumindest für ein paar Wochen mochte er nicht an seine Zukunft denken. Irgendwie würde es schon weitergehen mit ihm, so wie es auch bisher immer irgendwie weitergegangen war. Mit der Zeit würde eine Lösung kommen, plötzlich, von irgendwoher- in den vergangenen vierzig Jahren seines Lebens hatte es schon oft unvermutete Wendungen gegeben, wenn auch, wie er zugeben musste, nicht immer nur zum Guten. Die Dinge für eine Weile einfach dahintreiben zu lassen, sich mit verhältnismäßiger Ruhe den Büchern und der Musik zu widmen, konnte in einer zerklüfteten Lage wie dieser nicht das Unvernünftigste sein."

... die Sprache

Einfach genial. Formulierungen, die mich schmunzeln lassen und eine Ruhe und Nachdenklichkeit, die den Protagonisten ins passende Licht rücken. Komik, die ganz still daherkommt und einen Peter Nauten beschreibt, dem es bei allem ganz ernst ist. Eine unvergessliche Figur mit leicht oblomowen Zügen ist hier geschaffen worden. Sprachlich sehr ausgefeilt und wunderbar treffend.







Sonntag, 24. Mai 2015


"Tobys Zimmer" von Pat Barker



"Irgendwann musste man loslassen und sich mit einer Annäherung an die Wahrheit zufriedengeben ..."

                                                                                    
Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Im Mittelpunkt dieser Geschichte stehen die Kunststudentin Elinor Brooke und ihr Bruder Toby. Der Titel des Buches ist toll gewählt, denn die Handlung beginnt gewissermaßen in Tobys Zimmer und endet dort auch dort. Die Geschwister sind einander sehr zugeneigt und verbringen dort eine Nacht zusammen, was zum Teil spätere Entwicklungen erklärt und aus diesem Grunde wesentlich ist.
Toby geht im Ersten Weltkrieg an die Front und 1917 erhält die Familie die Nachricht, er sei vermisst und vermutlich gefallen. Elinor trauert schwer und findet zunächst allein Trost in der Malerei. Als sie Henry Tonks, Kunstprofessor an der Slade School of Fine Art, kennenlernt, arbeitet sie mit ihm an einer Dokumentation über im Krieg verstümmelte Gesichter. Das zeichnerische Portraitieren leistet Vorarbeit für die plastische Chirurgie. Auch Kit Neville wird schlimm entstellt eingeliefert und von ihm und einem weiteren gemeinsamen Freund erhofft Elinor sich Aufschlüsse darüber, wie ihr geliebter Bruder zu Tode gekommen ist. Kit war bis zuletzt gemeinsam mit Toby an der Front. So wird ein enormer Spannungsbogen aufgebaut, der mich sehr an das Buch gefesselt hat.
Das Buch lebt aber nicht alleine von der Spannung. Vielmehr geht es darum, was der Krieg mit den Menschen macht. Pat Barker zeigt sichtbare Verletzungen auf, aber auch die Blessuren im Menschen, die noch schwerer wiegen. 
Den britischen Arzt und Maler Henry Tonks hat es wirklich gegeben. Er hat tatsächlich für die Gesichtschirurgie medizinische Illustrationen angefertigt.

... das bewegte Herz

Emphase und Ergriffenheit in der Malerei, die Liebe zur Landschaftsdarstellung, die einnehmende Sprache Pat Barkers.
Kit und Paul. Der Krieg, der immer noch in ihnen wütet.

... ein Zitat

"Ihre erste Reaktion auf die Nachricht war ein Euphorieschub gewesen; auf der Stelle hatte es sie in den Fingern gejuckt, Pinsel und Farbe zu ergreifen. Trauer war für die Toten bestimmt, und Toby konnte nicht tot sein, solange sie lebte und einen Pinsel halten konnte ...
"Du hast doch mal gesagt, sollte Toby sterben, würdest du hierher zurückkommen und die Landschaft malen, in der er aufgewachsen ist. Du sagtest, du wolltest malen, was ihn geprägt, nicht, was ihn zerstört hat."
Sie lächelte. "Genau das tue ich."

... die Sprache

Poetisch und reich an Bildern ... "Bilder der vergangenen Nacht hingen wie Fledermäuse in seinem Schädel."



Sonntag, 3. Mai 2015

"Am Schreibtisch- Thomas Mann und seine Welt" von Inge Jens



                            "... am vertrauten Schreibtisch mit Blick auf den Ozean..."

Es bleibt in Erinnerung ...


... die Story

Thomas Mann ging wie einige andere deutsche Schriftsteller unter Hitlers Regime ins Exil. Als Hitler an die Macht kam, befand sich Thomas Mann gerade auf Vortragsreise im Ausland. Als es sich bei fortschreitender beängstigender Entwicklung in Deutschland als weise erwies, nicht mehr heimzukehren, zog die Familie Mann in ein Haus in der Nähe des Züricher Sees. Es folgten weitere Ortswechsel, waren das nach Sanary an der südfranzösischen Mittelmeerküste, Beverly Hills in Kalifornien und "zur Verbringung des Lebensabends" letztendlich wieder in die Schweiz. Thomas Mann suchte über die Jahre "endgültige Geborgenheit" und tat sich eigentlich schwer mit der ständigen Verlagerung seiner Lebens- und Schaffensorte. Stets blieb eine Sehnsucht nach deutschsprachiger Umgebung bestehen.
Inge Jens hat mit dem Mahagonischreibtisch Thomas Manns das Möbelstück in den Mittelpunkt gerückt, das ihm ein Garant für beharrliches Schreiben, Verlässlichkeit und Heimatgefühl war. Bei jedem Umzug durfte es mit, überquerte zusammen mit seinem Besitzer Meere und Kontinente. An ihm sammelte Thomas Mann sich und schrieb im Exil seine großen Werke "Joseph und seine Brüder" und "Doktor Faustus".
Der Autorin ist es auf interessante und warmherzige Art und Weise gelungen, Thomas Mann und seinem Schreibtisch ein kleines literarisches Denkmal zu setzen. Ich fühlte beim Lesen, wie sehr er Schaffensoase für den Autoren gewesen ist und unabdingbar für die Genese von Adrian Leverkühn und die Josephsgestalt.

... ein Zitat

"An fremden Orten war es ihm noch nie gelungen, Dauerhaftes zu Papier zu bringen. Er brauchte seinen festen Platz und die gewohnte Ordnung, um schreiben zu können: den eigenen Schreibtisch- samt den vertrauten Utensilien, die ihm das Gefühl von Sicherheit und Kontinuität vermittelten. Alles andere konnte zwar der augenblicklichen Befindlichkeit zuträglich sein, das Eigentliche aber, das große literarische Vorhaben, setzte die Geborgenheit im Bekannten, Beherrschbaren voraus. Undenkbar, dass Thomas Mann an Café-Tischchen oder Sekretären seiner teuren Hotels seine Romane hätte entscheidend fördern können."

... das bewegte Herz

Kostbare Kästchen und Dosen, eine Uhr im Glasgehäuse, ein großer elfenbeinerner Brieföffner, eine Sammlung ägyptischer Grabesdiener, verschiedene gemaserte Steine, Familienfotos und seine Schreibmappe. Alles, was ihm lieb war, hatte seinen festen Platz auf dem Schreibtisch und musste auf immer gleiche Weise nach den Umzügen wieder drapiert werden.

... die Sprache

Das Buch ist sehr genau recherchiert und das findet sich auch in der Sprache wieder. Wohlformuliert und zusammengetragen. Man kann sagen: da haben sich zwei gefunden: der pedantische Thomas Mann und Inge Jens, die schon als Editorin von Thomas Manns Tagebüchern gerühmt wurde.
Sprachlich aber nicht nur exakt, sondern auch liebevoll. Man spürt die Verbundenheit mit der Familie Mann.