Samstag, 31. Oktober 2015

"Eine Hand voller Sterne" von Rafik Schami



                "Geschichten sind Zauberquellen, die nie versiegen."

Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Dieses Buch hat autobiographische Züge, denn Rafik Schami erinnert sich selber an seine Jugendjahre und die schriftstellerischen Anfänge. In dem Roman erzählt er als Junge in Damaskus von seiner Familie, von Freunden, seiner ersten Liebe und vor allem von seinem Traum, Journalist zu werden. In der Schule lernt er fleißig und interessiert und hat Freude an Gedichten. Zwei von ihm verfasste werden gar in einem Buch veröffentlicht. Trotzdem nimmt der Vater ihn aus der Schule und lässt ihn in der familieneigenen Bäckerei arbeiten. 
"Die Armut erstickt unsere Träume, noch bevor sie zu Ende geträumt sind."

In Damaskus sind Verhaftungen an der Tagesordnung, die Regierung verfolgt Regimeuntreue rigoros. Journalisten leben gefährlich, sobald sie eine eigene Meinung kundtun wollen. Der Bäckerssohn verfolgt sein Ziel jedoch weiterhin und beginnt zusammen mit seinem Freund Habib eine Untergrundzeitung herauszugeben. Als Habib verhaftet und gar gefoltert wird, lässt sich der Junge nicht beirren und publiziert weiter. Sein wacher mutiger Geist schenkt dieser Lektüre eine beeindruckende Lebendigkeit. Immer bleibt die Hoffnung, da Aufgeben keine Alternative ist.

... das bewegte Herz

Die Freundschaften, die der Junge pflegt. Besonders bewegt haben mich die Geschichtenerzähler unter ihnen und ihre Weisheiten.
"Der Tod, mein Junge, sagt uns jede Stunde: Lebe! Lebe !Lebe!"

... ein Zitat

"Ich rede nicht mehr mit ihm. Ich bin wie gelähmt. Irgendwann hat er noch versucht mir zu erklären, in was für einer schwierigen Lage er sei und dass er auch gerne in die Schule gegangen wäre ... Als er fertig war mit seiner Litanei, fragte ich ihn, warum wir wohl nur Bäcker sein sollen. Er schaute mich überrascht an und sagte, das sei unser Schicksal. Meines nicht!!! Ich will nicht!!! Ich will weiter zur Schule gehen und Journalist werden!!!"

... die Sprache

Eine leise Sprache. In kurzen Sätzen. So wie Tagebucheintragungen eines heranwachsenden Jungen lauten könnten. 
Die Sprache fängt sehr schön die Atmosphäre in Damaskus ein. Ich habe Innenhöfe, Lehmhütten und offene Türen gesehen und konnte den Käse, die Rosinen und Mandeln riechen ...






"Die Mutter meiner Mutter" von Sabine Rennefanz



                                "Ich kenne sie nicht so weich und offen."

Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Ein Flüchtlingsmädchen kommt nach dem Krieg als Umsiedlerin in einen Ort an der Grenze zwischen Schlesien und der Kurmark Brandenburg. Es heiratet einen über zwanzig Jahre älteren Mann und bekommt Kinder. Jahrzehnte später offenbart sich der Tochter, was damals vor der Hochzeit geschehen ist und schließlich ist es die Enkelin, die in ihrem Roman dieser Geschichte nachspürt und sie verarbeitet. Bilder von Liebe und Familienidylle fallen zusammen und müssen wie ein Puzzle neu geordnet werden.
Die Icherzählerin fühlte sich ihrem Großvater stets sehr verbunden, liebte ihn so zufrieden und ihr zugewendet er war, während sich zur Großmutter Anna keine Nähe einstellen wollte. "Wenn ich versuchte, meine Großmutter zu umarmen, duckte sie sich weg."
In dem biografischen Roman von Sabine Rennefanz wird im Nachhinein das Leben von Anna aufgeblättert. In verschiedenen Erzählzeiten und Perspektiven kommt die Autorin hinter eine Familientragödie, die mit der Bürde der Vertreibung nach dem zweiten Weltkrieg beginnt und bis in die Generation der Enkelin nachwirkt.

... das bewegte Herz

"Sie deckte den Täter, um die Töchter zu schützen."
Das Zusammenrücken der Familie nach der Offenbarung der Großmutter. Wunderbar, wie gelöst Anna danach wirkt, körperliche und emotionale Nähe zulässt.

... ein Zitat

"In unserer Familie gibt es wie in den meisten Familien eine feste Erzählung, ein Skript, in dem allen Rollen zugeschrieben werden, an die sie sich zu halten haben. Mein Großvater ist darin der Held, der barmherzige Patriarch, der um die Familie kämpft. Er ist der treusorgende Familienvater, der hilfsbereite Nachbar, der vorbildliche Ehemann ...
Meine Großmutter spielte die Rolle der harten, missmutigen Frau ...
In Wahrheit hat diese Rollenverteilung noch nie gestimmt und die Erzählung unserer Familie war eine Lüge. Wie das Land, in dem wir lebten, eine Lüge war. Vielleicht musste die große Lüge erst zusammenbrechen, bevor die kleinen zum Vorschein kamen."

... die Sprache

Sprachlich nicht ganz ausgefeilt. Aber die eher einfache Sprache versucht vielleicht die Beklemmung zu händeln, setzt ihr in kurzen prägnanten Sätzen Schranken und vermeidet so das allzu biographisch Sentimentale.

Ich möchte das Lesen dieses Buches empfehlen, empfinde es allerdings am Ende als nicht ganz rund. Schlusssätze sind gewichtig und das möchte ich auch spüren. Hier scheinen sie mir sehr beliebig und austauschbar.

Dienstag, 13. Oktober 2015

"Über den Winter" von Rolf Lappert



               "Die Wintersonne war blass, eine geschälte Orange."

Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Lennard Salm, ein Performancekünstler in den Endvierzigern, lässt im fernen Süden sein gegenwärtiges Projekt liegen und kehrt heim nach Hamburg, um zur Beerdigung seiner Schwester Helene vor Ort zu sein. Nach vielen Jahren kommt die Familie anlässlich dieses traurigen Ereignisses wieder zusammen. Der Winter spiegelt die Grundstimmung des Romans und seines Protagonisten wieder: frostig und der Himmel meist "schmutzigblau".
In der ganzen Familie herrscht vordergründig eine eher kühle Atmosphäre. Es ist allein Lennards Schwester Bille, die sich über die Jahre ein unbekümmertes Gemüt bewahrt hat. Vielleicht aber sind es auch nur die Joints, mit Hilfe derer sie sich "an ein heiles Familienleben" erinnert und zur "Meisterin im Aufhellen, im Schönreden, im Verdrängen" wird. 
Nach und nach erfährt der Leser mehr von der zerrütteten Familie, für Lennard ein "Elend des Erinnerns". Er verließ damals Hamburg, ging nach New York und gab sich ganz der Kunst hin.

Nun zurück in Hamburg besinnt er sich auf seinen alten Vater, zieht wieder in das Kinderzimmer von damals und möchte bleiben. Aber man könnte sagen, es ist zu spät. Die "große weiße Karte seines zukünftigen Lebens" wartet vergeblich auf Farbe. 

"Über den Winter" ist ein großartiger Roman über die Verdrängung unerfüllter Wünsche, das Aufgeben von Träumen und das Hinterlassen von Spuren. 
Das Trübe und Wolkenverhangene, das in diesem Roman vorherrscht, ist manchmal schwer zu ertragen, aber Rolf Lappert setzt außergewöhnliche Stimmungen in Szene, schafft Orte und Figuren, die ich als Leserin nur ungerne wieder verlasse. Besonders packend für mich: Lennards Vater und sein Wohnraum auf dem Dachboden.


... das bewegte Herz

Lennard, der "seine Mutter verachtet und sich zugleich nach ihr gesehnt hat". Der "Dämmergrund der Kindheit", der ihm zu schaffen macht.

... ein Zitat

"Er meinte das Gewicht des Gebäudes auf sich zu spüren, das Gewicht all der vergeblichen Worte, die darin gefallen waren, die Last der enttäuschten Hoffnungen, das schwerwiegende Glück, das am Ende des Tages so leicht war, dass es verflog. Er fühlte die Anwesenheit seines Vaters, der über ihm am Küchentisch saß und mit einem Bleistift sorgfältig Buchstaben in kleine Quadrate schrieb und gegen das Vergessen ankämpfte, indem er sich an Surinam erinnerte, obwohl er nie dort gewesen war, und an Maniok, das er nie gegessen hatte. "

... die Sprache

Den Leser berührend, gründlich, bildhaft, ausdrucksstark trotz leiser Töne. 


Donnerstag, 8. Oktober 2015

"Die Geschichte von Blue" von Solomonica de Winter


        Ein bemerkenswertes Debüt der Tochter von 
Leon de Winter und Jessica Durlacher.


Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Blue, ein dreizehnjähriges Mädchen, schreibt einen Brief an einen gewissen Dr. Jeremy Stewart. Sie möchte ihm darin darlegen, warum aus ihrer Hand ein Doppelmord geschehen ist.
Man erfährt zunächst vom Verlust ihres Vaters. Als dieser bei einem Bankraub ums Leben kommt, ist Blue vom "Dämon der Verzweiflung" gepackt. Ihre drogenabhängige Mutter vermag ihr nicht die gleiche Wärme zu geben, Blue ist vielmehr oft sich selber überlassen und ohne Halt. Erschwerend kommt hinzu, dass Blue seit dem Tod ihres Vaters nicht mehr spricht.
Ihr Vater schenkte ihr einst ein Buch, den "Zauberer von Oz". Blue trägt dieses Buch stets mit sich rum und identifiziert sich mit mit den Figuren darin. Freundinnen hat sie keine, denn mit dem merkwürdigen Mädchen möchte keiner was zu tun haben.
Als sie sich verliebt, gar wieder zu reden beginnt, aber dann bitter enttäuscht wird, eskalieren Hass und Wut in ihr und sie begeht den Doppelmord.
Geschickt lässt die Autorin sie in ihrer Erklärung nicht nur den Psychologen, sondern auch den Leser ansprechen. Unweigerlich versetzt man sich in sie hinein, doch haben mich ihre bitteren Rachegelüste ein wenig befremdet.
Der Aufbau des Buches ist genial gestrickt. Solomonica überzeugt mit einem Konstrukt, das mich, vor allem hinsichtlich ihres Alters, begeistert hat.
Solomonica tritt mit diesem beeindruckenden Debüt in die Fußstapfen ihrer Eltern. Sie sind die bekannten und erfolgreichen Schriftsteller Leon de Winter und Jessica Durlacher.

... das bewegte Herz

Ihre Entwurzelung, ihre Sehnsucht nach dem Vater, die Mutter, die ihr keinen Halt gibt. Dass wir so tief in ihre blaue Seele blicken dürfen. Vor allem die letzten Seiten berühren sehr.

... ein Zitat

"Mein Name ist Blue. Nicht blau wie ein Rock oder ein Türkis, nicht blau wie Blaubeeren und nicht blau wie Nagellack. Sondern blau wie salzige Tränen, blau wie eine winzige Blaumeise. Blau wie der Wind, das Meer, der Regenbogen. Das Dunkelblau in den aufziehenden grauen Wolken vor einem Gewitter. Das ist das Blau, nach dem ich benannt bin. Das ist mein Blau."

... die Sprache

Es ist tatsächlich die Sprache eines Teenagers. Ruppig und rau im Aufstand, aber auch ganz zart auf der Suche nach Liebe. Gefallen haben mir die vielen Bilder, die Ausdruckskraft und die Poesie, die ihr gelingt.

Sonntag, 4. Oktober 2015

"Menschen am Berg" von Melanie Mühl


                                                      "Die Natur lehrt uns Demut."

Es bleibt in Erinnerung ...

... das Erzählte

Die Journalistin Melanie Mühl nimmt uns in acht Reportagen mit in die Berge und stellt die Menschen, die dort wohnen und arbeiten, in den Mittelpunkt. Die Vielfalt ist ihr gut gelungen, erleben wir ein Spektrum von Existenzen, die wirklich ganz nahe am Berg sind. Familien, die in den Bergen des Jura eine Alp oder im Kanton Uri einen Hof bewirtschaften, ein Glaziologe, der im Wallis Gletscher und Murgänge beobachtet, Geologen und Tunnelbauer, die im Gotthardmassiv einen Eisenbahntunnel vorantreiben, ein Bergführer im Engadin, der auch in der Bergrettung tätig ist und nicht zuletzt eine Bärenfamilie, deren Wiederansiedlung im Trentino versucht wird. Wir lesen von Familienzusammenhalt und Glaube, aber auch von Klimawandel, geologischem Profil, dilettantischer Seilschaft und dem gewünschten Nebeneinander von Mensch und Tier, das nur schwer umzusetzen ist.

... das bewegte Herz

Der Zusammenhalt der Menschen, das Bescheidene, der Wunsch, an keinem anderen Ort zu sein.
Das Glück trotz vieler Widrigkeiten, die Faszination für das Dämonische und die Schönheit der Natur. Besonders gut gefallen hat mir das Bild von Orten, die sich "zauberbergromantisch in die Gegend schmiegen."

... ein Zitat

"Wer die Menschen auf Golzern verstehen möchte, der muss die Landschaft verstehen, die sie geprägt hat. Es ist eine Landschaft, die keinen Zweifel an der der Übermacht der Natur lässt ... Die Natur ist besonders tückisch hier, sie hält keinen Fluchtweg bereit, nur das Ausgeliefertsein ... Im Herrgott haben sie einen Verbündeten gegen die feindliche Natur gefunden. Er ist die beste Deutung für das, was ihnen auf dem Berg widerfährt. Ohne Gott wäre alles nur Willkür, und die würde ihr Leben unmöglich machen."

... die Sprache

Die Sprache pendelt zwischen Reportage und Geschichte. Da die Autorin für den Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung schreibt, gelingt ihr dieser Spagat sehr gut. Ihre Sprache ist informativ und professionell und doch ganz nahe dem "Menschen am Berg".

Samstag, 3. Oktober 2015

"Der Hochstapler" von David Belbin


           "Ein Abschluss in Literatur ist der Tod für einen Schriftsteller."

Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Mark Trace, achtzehn Jahre alt und langhaarig, träumt davon Schriftsteller zu werden. Als er für ein Jahr nach Paris geht, hofft er dort auf Inspiration, denn auch Joyce und Hemingway lebten in jungen Jahren in dieser Stadt an der Seine. Seit seiner Schulzeit ist Mark empathischer Leser. In Paris vertieft er sich besonders in die Werke von Hemingway und versucht dessen Stil für eigene Werke zu übernehmen. Da er im Kopieren von Schreibstilen ein ausgesprochenes Talent beweist, werden seine Texte wirklich Hemingway zugeschrieben, als sie zufällig in den Umlauf geraten. Mark flüchtet aus den Verwicklungen nach London und verdingt sich dort als Redaktionsassistent in einem kleinen Literaturbetrieb, der regelmäßig eine Zeitschrift herausbringt. Und wieder schreibt Mark hingebungsvoll an Texten von berühmten Autoren, dieses Mal, um die Auflage der Zeitschrift zu steigern und ihr Überleben zu sichern. 
Ein Literaturstudium bricht er ab, als er mangels Enthusiasmus und Eifer durch eine wichtige Prüfung fällt.
Es gelingt David Belbin, mit Mark einen sympathischen, naiven Protagonisten zu schaffen, der immer wieder zu scheitern droht. Aber seine Leidenschaft für das geschriebene Wort schenkt ihm Antrieb und lässt ihn weitermachen.
Nicht nur Mark hat Freude an der Literatur. Auch der Leser spürt, dass dies ein Roman über große Schriftsteller und deren Werke ist, seien genannt Dickens, Greene, Hemingway, Joyce und Dahl. Wer Bücher liebt, liebt auch den Hochstapler ...

... das bewegte Herz

Das Herz schlägt für den liebenswürdigen Protagonisten und für die Literatur allgemein. Ein Roman für Bibliophile.

... ein Zitat

"Es begann, als ich vierzehn war und wir im Englischunterricht David Copperfield lasen. Die Klasse beschwerte sich, das Buch sei viel zu lang. Ich stimmt mit ein, aber insgeheim hatte ich Spaß daran; vor allem gefiel mir, wenn Mr. Moss uns vom viktorianischen London erzählte, einer Stadt, so tatkräftig und einfallsreich wie, nun ja, verkommen. Schon damals stand für mich fest, dass ich eines Tages in London leben würde.
Als wir beim Endes des zwölften Kapitels angelangt waren, gab Mr. Moss uns eine Aufgabe.
"Ich möchte", sagte er, "dass ihr so tut, als wärt ihr Dickens. Schreibt den Anfang des nachfolgenden Kapitels ... Ihr habt freie Hand, was die Handlung betrifft, aber ihr sollt versuchen, Dickens' Ton zu treffen."

... die Sprache

Sie ist einfach, aber nicht simple.
"Untertauchen" von Lydia Tschukowskaja


  "Alle Worte sind auf dieser Erde gewachsen und strecken sich zum Himmel wie diese Birken."

Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Lydia Tschukowskaja hat für ihren Roman die Kulisse einer Winterlandschaft gewählt, lässt die Protagonistin lange Spaziergänge durch einen verschneiten Wald machen und in das "Schweigen des Schnees" eintauchen.
Nina Sergejewna wohnt in einer Art Sanatorium für Schriftsteller und soll dort zur Ruhe kommen. Zu verarbeiten hat sie die Verhaftung und Ermordung ihres Mannes Aljoscha im Jahre 1937, als Stalins Terror ungemein wütete. Immer wieder tauchen Bilder von der Schreckensnacht in ihr auf, als Aljoscha zwischen zwei Soldaten das Haus verlässt. Nina lässt die Erinnerung zu, möchte nicht vergessen, sondern immer wieder realisieren, was geschehen ist, sich damit auseinandersetzen. Am liebsten möchte sie ein Buch darüber schreiben, aber ...
"Meinen Erinnerungen wird es versagt bleiben, sich in ein Buch zu verwandeln."
In ihrem Zimmer liest sie Gedichte, erinnert sich an die Poesie russischer Schriftsteller und arbeitet an Übersetzungen.
Mit "Untertauchen" ist ein Abtauchen in eigene Bewusstseinsgründe gemeint, das Aufspüren von Klarheit und Wahrheit.


... das bewegte Herz

Als sie in Bilbin einen Seelenverwandten vermutet, doch enttäuscht wird. Denn dieser Autor, ebenfalls Mitbewohner im Sanatorium, weicht in seinen Werken der Wahrheit aus und verrät damit seine Erinnerungen.

Die Liebe zur Poesie und die Erinnerung an Boris Pasternak haben mich immens bewegt.
Boris Pasternak teilte das Schicksal mit Lydia Tschukowskaja, wegen Landesverrats aus dem  Schriftstellerverband der UDSSR ausgeschlossen worden zu sein.

... ein Zitat

"Ich erhob mich und ging, um mich anzuziehen. Es war Zeit für einen Spaiergang  vor dem Untertauchen. Das tägliche Übersetzungssoll hatte ich bereits am Morgen hinter mich gebracht und mir vorgenommen, nach dem Tee, wenn alle vor dem neuen Film sitzen werden, zu tauchen. Sollte es mir gelingen, den Himmel, den Schnee und die Luft mit nach Hause zu bringen, bis zum Schreibtisch, dann könnte das Untertauchen gelingen, und die beseligende Klarheit des Blicks würde sich sofort einstellen."

... die Sprache

Sehr poetisch. Wunderbar in der Darstellung von Landschaft, Lyrik und Gefühlswelt.
"Das letzte Land" von Svenja Leiber


                        "Unserem Land leuchtet schon längst nichts mehr."

Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Ruven Preuk wächst in einer Stellmacherfamilie auf. Er entwickelt sich sonderbar, mag auf dem Hof nicht mit anpacken, sondern begibt sich lieber in die Natur und "zählt den Takt, den das Licht und die Pappeln ihm schlagen". Er ist hochmusikalisch und damit seinem bodenständigen Vater eher fremd. Dieser versucht ihm gar, die Musik aus dem Leib zu prügeln. Bis er nachgibt und dem Jungen erlaubt, eine Geige zu besitzen und Unterricht zu nehmen. Das, was nun als großes Glück beginnt, zerrinnt in den Tiefen des Krieges.
Svenja Leiber spannt diesen Roman über sechs Jahrzehnte auf. Am Ende hat Ruven nicht das erreicht, was das Leben ihm vielleicht versprochen hat. Die Frau seines Herzens wird nicht seine und andere Frauen scheiden wieder aus seinem Leben. Auch kommt ihm die Musik abhanden.
Später geigt er nur, "um nicht ganz zu verschwinden" und "ohne inneren Klang".
Es ist die Unbarmherzigkeit des Lebens und des Krieges, die ihn beugt, seine vergebliche Anstrengung, in der Liebe und der Leidenschaft zuhause zu sein. Der Ton des Buches ist sehr melancholisch, aber ich muss es doch empfehlen, denn es rührt und packt den Leser. Am Ende lacht kein Happy End, aber in seiner Tochter Marie wohnt etwas Glück, nicht hell und funkelnd, aber es verspricht Dauer. 

... das bewegte Herz

Es liegt in der Person des Ruvens, in der Abwärtsspirale seiner Leidenschaft für die Musikalität des Lebens. Seine Begabung verklingt, verstummt im Schmerz.
Und die Sprache bewegt, rührt mit ihrer Wucht und der Stärke ihrer Bilder.

... ein Zitat

"Ist ihm langsam ganz fern, dieser Junge. Kommt weder nach ihm noch nach der Mutter, und kam doch aber mal nach ihnen beiden. Er hatte die Formen von ihm und die Farben von ihr. Jetzt sieht es so aus, als habe er vor, einer zu werden, den man nicht kennt ... "Die Bienen, die erkennen sich am Geruch", sagt Nils. "Wenn eine heimkommt, die anders riecht, jagt man sie fort."

... die Sprache

Sie ist rau und drastisch, aber sie vermag Bilder zu malen, die großartig sind. Manchmal knapp und kurz, dann aber wieder getragen von einer Poesie und Metapherintensität, die mich als Leserin sehr für das Buch geöffnet hat.