Sonntag, 27. Dezember 2015

"Wohin der Wind uns weht" von Joáo Ricardo Pedro


"Nicht ich habe angefangen, Klavier zu spielen. Das waren meine Hände."

Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Die Handlung in diesem Roman entwickelt sich in einzelnen Episoden und springt in Zeit und Raum über drei Generationen. Das Gewicht liegt auf Duarte Mendes, der schon als kleiner Junge die große Kunst des Klavierspielens beherrscht, zunächst mit viel vermeintlicher Leidenschaft, bis das Leiden überwiegt und er sich von dieser Kunst abwendet. Er ist der jüngste Spross in einer bewegten Familiengeschichte, die in einem abgelegenen Dorf in Portugal zu Hause ist. Als besonders starke Persönlichkeit glänzt sein Großvater Augusto, ein Aussteiger und Arzt, der am politischen Geschehen teilnimmt und die Ablösung der Diktatur in Portugal ersehnt.
Sein Sohn Antonio, Duartes Vater, kämpft als Soldat in Angola und kehrt als gebrochener Mann zurück. Duarte trägt an der Last in dieser Familie und erfährt brutale Züchtigung durch seinen Vater.

Das Herzstück dieser weitgestreckten Geschichte ist die Magie der Kunst, zum einen, was sie im Kunstschaffenden anstößt, aber auch im Betrachter und Zuhörer. Kunst weckt Gefühle, man kann sich in ihr wiederfinden und spiegeln. Der Leser taucht nicht nur in die Welt der Musik ein, sondern auch in die der Malerei. Ein Gemälde von Bruegel rückt ins Zentrum. Starke Szene!

Stellenweise reagiere ich mit Verwirrung und zunächst Unverständnis, wenn ein neues Kapitel Verbindungen herstellt, die nicht sofort einleuchten. Einiges bleibt rätselhaft, doch ich möchte dieses Werk trotzdem empfehlen. Eine Herausforderung, die glücklich macht!

... ein Zitat

" Duarte kannte diese Musik von innen her. War völlig vertraut mit ihr. So, wie man das Haus kennt, in dem man wohnt, wo man selbst im Dunkeln oder mit geschlossenen Augen seinen Weg findet. Nur von Erinnerung geleitet. Von einer Erinnerung, die eigentlich gar keine war. Eher ein Erkennen. Denn wenn Duartes Finger begannen, ein bestimmtes Beethoven-Stück zu ertasten, so taten sie das, selbst beim ersten Mal, nie - und das galt für jedes Beethoven-Stück - mit der Begeisterung des Entdeckers, mit der Erregung desjenigen, der sich in ein Abenteuer stürzt, sondern mit der Gelassenheit eines Menschen, der sich in einem angenehm vertrauten Raum bewegt."

... das bewegte Herz

Starke Szenen haben mich gepackt und bewegt und die geschaffenen Figuren begeistert. Ganz tief durfte ich in ihre Qualen blicken.
Und ich bin auf viele Sätze gestoßen, die es wert waren, notiert zu werden.
"Waise zu sein, heißt, für immer an einem Caféhaustisch zu sitzen und zu warten."

... die Sprache

Sie glänzt mit hochpoetischen Passagen. Aber Joáo Ricardo Pedro experimentiert auch gerne, fügt kurze abgehackte Sätze ein, sobald es zur Dramaturgie passt. Er ist ein ganz großer Erzähler.
"Sehnsucht nach Sibirien" von Per Petterson



"Ich bin dreiundzwanzig, das Leben ist vorbei. Jetzt kommt nur noch der Rest."

Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Eine Geschwisterliebe in einem dänischen Dorf am Meer. Das Mädchen ist die Icherzählerin, vierzehn Jahre alt, ihr Bruder Jesper ist drei Jahre älter. Die beiden haben ein ganz besonders inniges Verhältnis, nehmen Zuflucht zueinander, wenn es in der Familie schwierig wird. Großvater, Mutter und Vater tragen alle ein Problempäckchen mit sich rum, sind wohl herzlich mit den Kindern, aber oft in ihrer Empathie sehr eingeschränkt. Die dänische Landschaft kommt wie ein Idyll rüber, aber es braut sich was zusammen, wie der Leser unschwer erkennt. Der Großvater hängt sich auf, die Mutter flieht in Choräle und das fromme Klavierspiel und die Nazis marschieren in Dänemark ein. Jesper, der bei einer Lokalzeitung arbeitet, macht Stimmung gegen sie und begibt sich somit in Gefahr.
Bruder und Schwester träumen sich weg. Jesper möchte gerne nach Marokko, sie dagegen fantasiert von Sibirien, möchte dort leben, wo die Transsib fährt und es "warmen Tee aus dem Samowar" gibt.
Das Leben trennt die beiden, denn Jesper flüchtet schließlich vor der Verfolgung durch die Nazis und sie vermag nicht ohne ihn zurückzubleiben. Sie reist nach Norwegen, Schweden und durch Dänemark (immer auf der Suche nach Liebe und Glück) und macht sich erst, als sie Nachricht von Jesper (der es tatsächlich nach Marokko geschafft hat) erhält, zurück auf den Weg Richtung Heimat, um dort ihren Bruder wieder zu treffen ...
Was die nächsten Seiten an Unvorhergesehenem bringen, möchte ich hier nicht vorwegnehmen ...

Sie zieht auf Læsø zu einer Freundin, um dort in angenehmer Abgeschiedenheit ihr Kind zur Welt zu bringen. Das Idyll gaukelt mir Glück vor (Schafherde, Holzofen in der Küche, Spaziergänge am Meer, Fischereihafen), aber in ihr ist immer noch großer Schmerz und Bedrückung.
Ich möchte definitiv eine Leseempfehlung aussprechen. Die Melancholie ist nicht dramatisch- aufgesetzt, sondern sie kommt sehr still daher und ist eine wahre Perle in diesem Buch von Per Petterson.

... das bewegte Herz

Der Schlusssatz: "Poker lief am Wasser entlang mit einem Möwenflügel in der Schnauze, und ich war damals so jung, und ich erinnere mich, dass ich dachte: Ich bin dreiundzwanzig, das Leben ist vorbei. Jetzt kommt nur noch der Rest."

... ein Zitat

"Du musst vorausplanen, Schwesterherz, du musst dir im voraus Gedanken machen", aber das tat ich selten. Ich wusste, dass ich einmal aus dieser Stadt wegwollte. ich wusste, dass ich mit der Transsibirischen nach Wladiwostok wollte, aber ich wusste nicht immer, warum ich die Dinge tat, die ich gerade tat.
Ich zog mir die warmen Sachen an und knotete den Schal dicht um den Hals, und zusammen gingen wir die Hauptstraße hinauf und vergaßen, dass wir zum Abendessen zu Hause sein sollten. Ich hielt Jesper an der Hand, auch wenn ich wusste, dass er sich dafür zu groß vorkam ..."

... die Sprache

Eine sehr stille warmherzige Sprache. Schöne Wort- und Landschaftsmalerei.






"Der Buchhändler von Archangelsk" von Georges Simenon


"Endlich merkte er, dass er ein Fremder war, ein Jude, ein Einzelgänger, einer vom anderen Ende der Welt ..."

Es bleibt in Erinnerung ...

...die Story

Jonas Milk, gebürtig aus Archangelsk in Russland, eröffnet nach einigen Jahren im europäischen Exil in einer französischen Kleinstadt ein Buchantiquariat. Neben Büchern gilt seine Liebe der Philatelie und als er Gina kennenlernt und heiratet, auch seiner jungen attraktiven Frau. Gina ist gebürtig aus der Ortschaft und mit ihr erfährt Jonas bürgerliche Anerkennung und ein Dazugehörigkeitsgefühl. Bis Gina verschwindet und Jonas feststellen muss, dass die Nachbarn ihm, dem Juden und Russen, mit Argwohn begegnen. Das verstärkt sich, da von Gina jede Spur fehlt und er sich aus lauter Scham in Lügen verstrickt. Nach einer Vorladung im Polizeipräsidium wird sein Haus durchsucht und Jonas gerät immer mehr in Erklärungsnot. Seine größte Pein sind die Anfeindung, die boshaften Blicke und die Meidung seiner Person.
Eine Tages meldet sich unerwartet eine Zeugin und Jonas kann auf Entlastung hoffen, aber er ist schon zu sehr in quälender Gram versunken ...

... das bewegte Herz

Jonas, der stille unauffällige Buchhändler, der sich integriert wähnte und erst im Unglück wach wird: stets ist er der Einsame und Sonderbare geblieben, ein Mensch "von einem andern Planeten". Sein Kummer, der damit einhergeht, bewegt.

... ein Zitat

"Die Bücherkästen, die er morgens auf dem Bürgersteig anbrachte, waren bereits hereingeholt. Einige Bände hatte er umgestellt - ohne triftigen Grund, einfach um die Farben der Umschläge aufeinander abzustimmen.  Er hatte das Licht angedreht. Überall waren Bücher: auf den bis zur Decke reichenden Gestellen sowie stapelweise auf dem Ladentisch und auf dem Boden in den Ecken ...
Sie hatte ihn gerade verlassen, und ihn schwindelte."

... die Sprache

Georges Simenon versteht es mit eher kurzen einfachen Sätzen eine beklemmende Atmosphäre zu schaffen.

Der Diogenes-Verlag lockt mit einem ansprechenden Cover. Zudem hat mich "Der Buchhändler ..." im Titel gereizt. Keine hohe Literatur, aber eine ansprechende Lektüre.





Freitag, 11. Dezember 2015


Das Herz ist auch in diesem Roman nur ein einsamer Jäger ...

"Spiegelbild im goldnen Auge" von Carson McCullers



"Unser Geist gleicht einem verschlungenen Gewebe, seine Färbung ist durch unsere Sinneserfahrungen geprägt ..."

Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Eine neu erbaute Garnison in den Südstaaten ruht in spröder Abgeschiedenheit und denkbar landschaftlich schön, doch das scheint niemand wirklich wahrzunehmen. Die zusammengewürfelte Gemeinschaft amerikanischer Soldaten und Offiziere denkt und fühlt nur bis zur Fortgrenze. Während die Soldaten, unter ihnen L.G. Williams, in den Kasernen wohnen, führen die Offiziere und Majore ein opulentes Leben in eigenen Häusern. Letztere treffen sich abends zum Kartenspielen, geben Partys und sollten die Glücklicheren vor Ort sein. Aber Langeweile und Neurosen haben Einzug gehalten. So auch bei Hauptmann Penderton, seiner Frau Leonora und den Nachbarn Major Langdon und Frau Alison. Vorherrschend die Gefühle von Einsamkeit, Schwermut und Verstörtheit. Ein Kaleidoskop skurriler Protagonisten, die -von Carson McCullers wunderbar erschaffen- den Leser in den Bann ziehen. Ganz still und behutsam nimmt eine Tragödie ihren Lauf, von der der Leser schon sehr bald weiß, dass sie nicht aufzuhalten ist. Ich war in gespannter Erwartung, habe aber trotzdem langsam und genussvoll gelesen, denn es wurden Szenen lebendig, in denen ich hätte verharren wollen. Atmosphärische Dichte, groteske Not, verlorene Menschen. Das alles hat mich eingefangen und nur schwer wieder los gelassen. 
Das Spiegelbild als Metapher dafür, sich selbst zu finden und zu erfahren! Grandios.

... das bewegte Herz

Die Protagonisten mit ihren Nöten. Und die schönen Szenen zu Pferd. Sie bewegen, weil die Reiter mit allen Sinnen dabei sind. 

... ein Zitat

"Im Leben eines Mannes gibt es Zeiten, in denen er jemanden braucht, den er lieben, auf den er seine nervösen Empfindungen richten kann. Und es gibt Zeiten, da sein Ärger, seine Enttäuschungen und Lebensängste in Hass münden müssen. Und es gab niemanden, den der unglückliche Hauptmann hassen konnte, und so befand er sich seit einigen Monaten in der kläglichsten Verfassung."

... die Sprache

Elegant, von zartem schönen Vokabular. Selbst Gewalt wird gefällig geschildert. 
Emotional intelligent.





Mittwoch, 9. Dezember 2015

"Der Stift und das Papier" von Hanns-Josef Ortheil


"Dafür belohnt mich das Schreiben mit großer Wachheit. Ich sehe das Leben nicht nur genauer, sondern ich sehe es überhaupt erst."

Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Wer vom Autoren den ersten Teil seiner Biographie "Die Erfindung des Lebens" gelesen hat und zu begeistern war, wird auch in dieses Buch gerne einsteigen. Mir ergeht es so, denn Hanns-Josef Ortheil hat Berührendes zu erzählen. 
Seine Mutter verstummt in Folge eines Schocks, als er etwa drei Jahre ist, was seine Stummheit nach sich zieht. Mit Hilfe des Vaters findet er seine Sprache wieder und an diesem Punkt setzt dieses Buch ein. 
In der Schule ist Hanns-Josef weit zurückgefallen und es droht die Sonderschule. Sein Vater, später auch die Mutter, erteilt ihm Unterricht, schenkt ihm ganz viel Zeit und Einfühlungsvermögen, um ihn in den Vorgang und die Kunst des Schreibens einzuführen. Der eigentliche Lehrer ist gar das Leben selbst: Hanns-Josef beobachtet alles um sich herum und ist hoch motiviert, alles festzuhalten. Sein Vater stellt ihm kleine Aufgaben, schenkt ihm Ideen zur Umsetzung und entfacht so seine Schreiblust. Zunächst gibt es jeden Tag Aufzeichnungen (Chronik genannt), es folgen Gedichte, Wetter- und Naturbeobachtungen, Dialoge, Vokabeln und kleine Geschichten. Hanns-Josef geht völlig im Schreiben auf, empfindet Glück und Zufriedenheit, liebt die tägliche "Schreibschule". 
In der Regelschule holt er tatsächlich auf und kann in der Jahrgangsstufe verbleiben.
Dieses Buch ist vielleicht keine literarische Sensation, aber die Geschichte einer Kindheit, die fasziniert. Begeistert haben mich die Eltern, die an ihren Sohn glauben, ihm ganz viel Liebe, Wissen und Erkenntnis schenken: im Schreiben steckt Magie! So erlebt es der Autor und hat darin seine Passion gefunden.
Heute ist Hanns-Josef Ortheil ein bekannter Schriftsteller und Universitätsdozent in Poetik und kreativem Schreiben. 
Erstaunlich!

... das bewegte Herz

Die Liebe der Eltern zu ihrem Sohn. Des Kindes Glück beim Schreiben.

... ein Zitat

" Als ich das zum zweiten Mal sage, bemerke ich erst, dass ich ein wenig wie Hemingway erzähle. Hemingway sitzt jetzt in meinem Kopf, wir schreiben zu zweit, und ich habe schon ein wenig von ihm gelernt. Ich warte darauf, dass Papa etwas sagt ... Papa räuspert sich wieder, und dann sagt er, dass er darauf vertraut habe, dass ich Hemingway als meinen neuen Lehrer begreife, denn er selbst könne mir nicht mehr viel beibringen. "Hemingway ist die beste Schule, die es gibt!", sagt Papa, und dann schweigt er ... "

...  die Sprache

Sie ist sehr ambitioniert und transportiert Wärme, wenn sie in Hanns-Josefs Seele blicken lässt. Zwischendurch gerät sie schon mal ein wenig in die Auflistung und verliert dann leider an Zauber.

"Dshamilja" von Tschingis Aitmatow


"Wenn er sang, sah ich ihn als kleinen Jungen vor mir, wie er einsam durch die Steppe wanderte."


Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Said ist Maler und sein liebstes Bild ist das zweier Menschen, die zwischen dichtem Pfriemengras auf einem Weg in die "lichte, freie Weite" gehen. Said erinnert sich ...
Mit fünfzehn Jahren lebt er in der kirgisischen Steppe bei seiner Familie. Dshamilja, die Frau seines Bruders, ist gleichzeitig seine beste Freundin. Das junge Mädchen sprüht vor Übermut und ist lebenslustig, verdreht den Männern den Kopf. Aber sie wartet auf Sadyk, ihren Mann, der vier Monate nach der Hochzeit in den Krieg ziehen musste. Bis Danijar ins Aul (Dorf) kommt, kriegsverletzt, verschlossen und schwermütig. Dshamilja fühlt sich zu dem rätselhaften Waisen hingezogen, vor allem als dieser seine Stimme offenbart. Danijar singt mit "Leidenschaft und Glut" und seine Lieder kommen "unmittelbar aus der Seele des Menschen". Said und Dshamilja lassen sich verzaubern und Dshamilja gesteht dem begnadeten Sänger ihre Liebe. In einer Augustnacht gehen sie weg, weg aus dem Aul, weg von Sadyk und auch weg von Said. Diese Szene verarbeitet Said in seinem Bild und tiefbewegt beschließt auch er das Aul zu verlassen. Er möchte eine Kunstschule besuchen und Maler werden.
"Und in jedem meiner Bilder wird Danijars Lied erklingen, wird Dshamiljas Herz schlagen."

... das bewegte Herz

Es ist die Poesie, die mich so bewegt hat. Die karge Steppe, die dank der Wortkunst zu einer traumhaften schönen Landschaft wird. Und mit den Augen der Liebenden betrachtet gewinnt alles an Farbe, Licht und Stimulus.

... ein Zitat

"Seine Stimme ergriff von mir Besitz, sie verfolgte mich auf Schritt und Tritt; sie klang mir in den Ohren, wenn ich morgens durch den taunassen Klee zu den weidenden Pferden lief, wenn die Sonne hinter den Bergen emporstieg und mir entgegenlachte. Ich hörte diese Stimme auch im leise rauschenden goldenen Regen des Weizens, den die alten Männer beim Worfeln mit ihren Schaufeln gegen den Wind warfen, und im gleitenden Flug des einsamen Geiers hoch über der Steppe ..."

... die Sprache

Zart und poetisch. Wunderschön!

Dienstag, 1. Dezember 2015

"Das Haus der zwanzigtausend Bücher" von Sasha Abramsky


"Die Sammlung war schlicht und einfach ein wunderbares intellektuelles Unterfangen."

Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Es ist Sasha Abramsky ein Anliegen, uns in das Haus seines Großvaters Chimen zu bitten. Genauso kommt es mir vor, wenn wir nach und nach durch alle Zimmer geführt werden und unsere Blicke über Bücherregale, Gemälde und das Mobiliar schweifen lassen dürfen.
Es ist vor allem eine Hommage an den Großvater, der über Jahre wertvolle Bücher, Erstausgaben, Manuskripte und Dokumente zusammengetragen hat, eine Sammelleidenschaft, die vor allem dem Beherbergen von bemerkenswerten Wissen und großen Ideen diente. Werke zur Geschichte und zur Philosophie, sozialistische Fachenzyklopädien, Revolutionsschriften und eine der wertvollsten Judaica-Sammlungen sind in dem Haus im Londoner Norden sortiert, gestapelt und hochgeschätzt.
Chimen war aber mitnichten ein Eigenbrötler, der sich hinter seinem "Archiv von Worten" versteckte, sondern er liebte es, Besucher im Haus zu haben, mir denen er moralische und politische Themen erörtern konnte. Die "Liebe zum Wissen" wurde mit Interessierten geteilt, wenn auch nicht jeder Gast in jeden Raum vorgelassen wurde.
Sasha Abramsky beginnt dieses Buch zu schreiben, als der Großvater 2010 stirbt und die kostbare Sammlung aufgelöst wird. Das Haus der "Buchjuwelen" zeigte schon Spuren von Baufälligkeit und konnte so nicht erhalten werden.
Der Autor schenkt seinem Großvater und seiner Leidenschaft einen zutiefst liebevollen Blick, wartet posthum mit noch ganz viel Hochachtung und Respekt auf.

... das bewegte Herz

Sasha, der als Kind ganz sicher war: alte Leute wohnen ausnahmslos in vollgestellten Bücherhäusern. So wie Chimen es gelebt hat, so bildete es für Sasha die Normalität ab.

Bewegt haben mich auch Chimens Worte im hohen Alter (fast neunzig): "Mein einziges Vergnügen besteht darin, ohne Unterlass zu lesen." Und das, während er schon körperlich verfällt und mit Schmerzen zu kämpfen hat.

... ein Zitat

"Im Laufe der Jahrzehnte war Chimen so süchtig nach Druckseiten geworden, nach der Haptik seiner Bücher, der Aura alter Manuskripte und den Inhalten seiner Briefwechsel, dass er sich zuletzt buchstäblich mit Wortmauern umgab. Sie boten ihm Schutz vor dem Wahnsinn der Außenwelt - oder halfen ihm, durch das Chaos zu navigieren. Am Ende seines Lebens war jeder einzelne Raum des Hauses, mit Ausnahme von Badezimmer und Küche, vom Boden bis zur Decke von Regalen mit doppelten Bücherreihen gesäumt ... und als in den Regalen kein Platz mehr war, verschwanden zuerst die Fußböden und dann die Tische unter hohen, schwankenden Bücherstapeln."

... die Sprache

Sasha Abramsky ist mit kultivierter Sprache groß geworden und arbeitet nach Studiengängen in Politik, Philosophie und den Wirtschaftswissenschaften im Bereich des Journalismus. Erfahrungen als Buchautor hat er bereits gesammelt. Dieses ist sein zweites Buch. Sehr gut ausformuliertes und intelligentes Werk.

Beeindruckt haben mich aber auch der Eifer und die Hingabe. Die Bewunderung für den Großvater und seine staunenswerte Sammlung ist auf jeder Seite spürbar.