Samstag, 10. Dezember 2016

Bibliothek meiner im Jahre 2016 gelesenen Bücher, die ich nicht besprochen habe. Einziger Grund: ich nahm mir keine Zeit dafür ⏰😕...









Sonntag, 20. November 2016

"Cox oder Der Lauf der Zeit"
 von Christoph Ransmayr



"... träumte von einer Uhr, deren Räderwerk sich
 in eine Zukunft ohne Grenzen und Maß drehte."

Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Sie spielt im 18. Jahrhundert und lässt den genialen Uhrmacher Alister Cox von England nach China reisen, um dort für den chinesischen Kaiser vor Ort einige Auftragsarbeiten zu fertigen. Die größte Herausforderung stellt der Wunsch nach einer Uhr dar, die "bis in alle Ewigkeit läuft". Wie ein Perpetuum Mobile möge diese "alle Menschenzeit" überdauern, ohne je aufgezogen werden zu müssen. Cox und seine Begleiter trauen sich an "das Unmögliche", erkennen jedoch eine Gefahr. Quiánlóng will Herr über alle Zeit sein und muss er es nicht als Erniedrigung empfinden, wenn ein Uhrmodell entsteht, das über seine eigene Lebenszeit hinausläuft? Ist das bedacht?
Die englischen Uhrmacher bangen um ihr Leben, denn sie haben miterlebt, mit welcher Grausamkeit Quiánlóng Menschen foltert und hinrichtet, die seine Machtstellung nicht anerkennen. Christoph Ransmayr verleiht seinem Roman damit eine gewisse Spannung. Sein eigentlicher Anspruch aber, eine märchenhaft angelegte Reflexion über Zeit und Vergänglichkeit zu schreiben, bleibt das Herzstück dieses Romans.

... ein Zitat

"Konnten also dieser Kaiser und dieser englische Uhrmacher über Ozeane, Sprachräume und Denksysteme hinweg durch so etwas wie Seelenverwandtschaft verbunden sein? ... auch wenn jeder Gedanke, jedes Gesetz und jede Ordnung dieser Welt die beiden voneinander unüberbrückbar zu trennen schien?"

... was mich bewegt hat

Das Nachsinnen, in welchen Lebensabschnitten das Verrauschen von Zeit wie empfunden wird und welche Uhrmodelle dem Gefühl jeweils nahe kämen. Besonders schön die Dschunke, die Cox entwirft, um den Lauf der Zeit in der Gedankenwelt eines Kindes zu veranschaulichen. Der Autor lässt den Uhrmacher mit viel sensibler Detailverliebtheit ans Werk gehen

...die Sprache

Eine Sprache der Eleganz und Wucht zugleich. Sie fesselt und begeistert mich. Beste Prosa.

... ein Fazit

Der Autor bündelt Historisches und erfunden Phantasiereiches. James Cox, ein englischer berühmter Uhrmacher, und der chinesische Kaiser Quiánlóng sind überlieferte Figuren und Christoph Ransmayr webt um sie herum eine famose Geschichte.
Auch im Bereich Sprache stoße ich auf Zweierlei. Sie verzaubert auf der einen Seite, wenn Cox sich voller Hingabe an sein Handwerk macht oder die Pracht im Reiche Quiánlóngs geschildert wird, aber ich empfinde einen Kontrast, wenn ich als Leserin Zeugin von Quiánlóngs makaberen Brutalität werde. Das ist ganz sicher so gewollt und gut gemacht.
Hier ist ein großer Autor am Werk gewesen. Geschaffen hat er eine brillante Parabel zum Thema Vergehen von Zeit. Unbedingt Lesen!

Sonntag, 13. November 2016

"Der eiskalte Himmel" von Mirko Bonné



"Strahlend weiß, mit pulsierend aufleuchtenden blauen Schründen 
liegt sie da wie eine vergessene, übersehene Küste."




Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Der Südpol war von Amundsen längst entdeckt, trotzdem macht sich 1914, kurz nach Ausbruch des ersten Weltkrieges, Shackleton mit seiner Mannschaft auf in die Antarktis. Er setzt sich das Ziel, als erster die Antarktis zu Fuß zu durchqueren. Die Endurance sticht dafür mit sechs Hundeschlitten und entsprechender Ausrüstung an Bord in See. In Buenos Aires kommt Merce Blackboro als blinder Passagier auf's Schiff und wird nach seiner Entdeckung wohlwollend von Shackleton akzeptiert. Als das Schiff im Packeis steckenbleibt, später sinkt und die Männer in Zelten auf Schollen versuchen auszuharren, bis Land in Sicht ist, geht es nicht mehr um das Gelingen einer Expedition, sondern ums Überleben. 
Gefesselt liest man von den Versuchen, Spalten ins Eis zu schlagen, den Gefahren von Blizzarden und Eispressungen, von Erfrierungen und Salzwassergeschwüren und von Hunde- und Albatroseintöpfen, letzte Versuche, die Mannschaft vor dem Verhungern zu retten. Zweimal werden Männer zurückgelassen, damit Hilfe geholt werden kann und stets bleibt der Ausgang ungewiss, es sei denn, man ist darüber informiert, wie die Imperial Trans-Antarctic Expedition ausgeht ...
Das alles wird aus der Sichtweise von Merce erzählt, der sich siebzehnjährig sehr unbekümmert dieser Expedition anschließt. Zum Ende hin verlassen auch ihn die Kräfte ...


... ein Zitat

"Dann gibt es überall rings nur noch Eis. Und mir, an meine überfrorene Reling geklammert, kommt es so vor, als stünde ich nicht am Heck unseres Schiffes, sondern am Heck der Zeit."

... was mich bewegt hat

Der eisige Kampf um's Überleben, der Zusammenhalt in der Mannschaft, die klirrende Schönheit der Antarktis. 

... die Sprache

Mirko Bonné schreibt auch Lyrik und das spürt man in seinem Roman. Sprachlich weit über dem, was ein Abenteuerroman vermuten lässt. Schöne Landschaftsbeschreibungen und Dialoge.
Eine hochliterarische Expedition.

... ein Fazit

Wer gerne ein wenig Abenteuerlust nachspürt, es aber sprachlich schön verpackt haben möchte, der sollte zu diesem Buch greifen. Mirko Bonné hat nicht den Anspruch auf Exaktheit in Details, dafür fügt er Finessen hinzu, die begeistern. So hat sich Shackleton auf der Endurance eine Bibliothek eingerichtet, in der Merce gerne stöbert und liest. Da es sich in der Hauptsache um Logbücher anderer Antarktisexpeditionen handelt, erfährt der Leser an diesen Stellen viel Wissenswertes.

Zu Beginn des Romans hat es mich gestört, dass er nur langsam in Gang kommt. Aber als die Endurance dann schließlich Fahrt aufnimmt, war ich gefesselt.
Kraft- und gefühlvoll zugleich ist die Schilderung der gewaltigen Natur und der Menschen, die sich ihr aussetzen.

Mittwoch, 26. Oktober 2016

"Meine erste Lüge" von Marina Mander



"Heute höre ich auf zu hoffen. Ich schaue mich um, 
und nichts scheint wie vorher."


Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Luca weiß nicht genau, was mit seinem Vater geschehen ist. Ist er tatsächlich gestorben ist, so wie seine Mutter es andeutet?
Das Leben mit der Mutter alleine ist nicht einfach, denn sie schluckt im Kampf gegen ihre immer wiederkehrende Traurigkeit Tabletten und gibt Luca viele Rätsel auf. Als die Mutter eines Morgens nicht aufsteht, dämmert es dem Jungen: "Vielleicht ist Mama tot." 

Der gerade mal neun Jahre alte Luca ist sehr aufgelöst, gleichzeitig aber beginnt er nachzudenken, denn er möchte nicht ins Waisenhaus. Also darf niemand vom Tod seiner Mutter wissen. Luca geht weiterhin normal zur Schule und versucht sich nichts anmerken zu lassen.
"Ich beschließe also, alles genauso zu machen wie mit Mama, nur ohne sie. Das muss doch gehen."
Zunächst gelingt das ganz gut ...

... ein Zitat

"Man kann keine Hausaufgaben machen, wenn einem die Mutter gestorben ist, aber das ist keine gute Entschuldigung, denn ich kann sie ja nicht gebrauchen. Es muss ein Geheimnis bleiben, ein allergeheimstes Geheimnis unter uns. Ich will nicht in einem Heim landen."

... was mich bewegt hat

Lucas Gedanken und seine Tränen und wie er unbeirrt versucht, seinen Alltag alleine zu meistern.
Die Zeit, die er am Bett seiner toten Mutter zubringt.

... die Sprache

Marina Mander lässt sich sprachlich auf den neunjährigen Luca ein. Einige Ausdrucksweisen übersteigen vielleicht den  Horizont eines Jungen dieses Alters, aber die Gesamtkomposition ist stimmig. Die einfache Sprache ist wider Erwarten eine sehr schöne.

... ein Fazit

Meine Bedenken, es könnte zu konstruiert sein, wurden zerstreut. Ich konnte mich sehr gut auf den Roman einlassen, seine stille Dramatik packte mich und meine Befürchtung, das Ende könnte mein Leseglück wieder zunichte machen, traf nicht ein.
Marian Mander hat ein trauriges Buch geschrieben, doch sind Lucas Gedankengänge oft so kindlich putzig, dass man auch schmunzeln muss.

Ein beeindruckendes Buch, das man lesen sollte.









Sonntag, 21. August 2016

"Zweier ohne" von Dirk Kurbjuweit


"Wir halten uns gegenseitig, sagte er, wir sind Zwillinge, 
nur du und ich."

"Zweier ohne" Steuermann ist eine Bezeichnung aus dem Rudersport. Im Boot sitzen zwei Ruderer, von denen jeder nur an einer Seite den Riemen durch das Wasser zieht. 
Diese internationale Bootsklasse war gerade wieder bei den Olympischen Spiele in Rio schön zu beobachten. Harmonie in den schmalen Booten ist unabdinglich, denn ohne ausgefeilte gemeinsame Schlagtechnik hat das Team keine Chance.

In Dirk Kurbjuweits meisterhaften Novelle sind es die beiden sechzehnjährigen Jungen Johann und Ludwig, die im "Zweier ohne" trainieren und schon ein paar Siege eingefahren haben. Beide sind von identischem Gewicht und harmonieren ausgezeichnet. Ihre Freundschaft erleben sie sehr isoliert von anderen, denn sie verbringen all ihre Zeit nur im Zweierpack.

"Wir müssen immer das Gleiche tun, wir müssen immer das Gleiche wollen, wir müssen immer das Gleiche denken."

Johann, der Icherzähler möchte daher nicht das Ungleichgewicht wahrhaben, das sich fast unbemerkt einschleicht. Als Ludwig an Körpergewicht zulegt, versucht Johann es mit Abnehmen auszugleichen, damit das Gesamtgewicht im Boot wieder stimmt.
Johann ist um Anpassung bemüht und als er mit Ludwigs Schwester Vera zusammenkommt, gerät er in Bedrängnis, da er vermuten muss, dass sein Freund es nicht toleriert.
Unausgesprochenes führt zu "Unruhe im Boot" und tatsächlich verlieren die ansonsten Erfolgsgewohnten ihr nächstes Rennen.

Der Leser spürt eine sich anbahnende Dramatik ...

"Die Frage ist ja ohnehin, ob nicht am Ende Hysterie einer unserer besseren Zustände ist. Man zeigt ungeschützt, ungebremst, dass man sich berühren lässt, dass einem die Dinge nicht egal sind, das wirkt oft albern, gebe ich zu, doch eigentlich ist der Hysteriker der Mensch in seiner ehrlichsten Ausprägung."

Ludwig ist seltsam fasziniert von der Brücke, die sich über das Wohnhaus seiner Familie spannt. Bereits einige Male haben sich von ihr Selbstmörder in die Tiefe fallen lassen. Als Ludwig im Garten einen der Herabgestürzten tot vorfindet, verhält er sich sehr merkwürdig ...

So spitzt sich diese Novelle zu ... mehr möchte ich nicht verraten.

Dirk Kurbjuweit schafft eine beklemmende Atmosphäre, die mir nahe gegangen ist. Wie es ihm gelingt, diese beunruhigende Freundschaft so still und unaufgeregt zu schildern, hat mich sehr beeindruckt. 

Sprachlich einfach aber nicht simpel. Die Geschichte wird perfekt transportiert.

Alles liegt im Auge der Jugendlichen und doch fühle ich mich als Erwachsene unmittelbar angesprochen. 
Lesen!




Samstag, 25. Juni 2016

"Die Filmerzählerin" von Hernán Rivera Letelier

Was Fantasie vermag, davon erzählt dieses Buch. Sprachlich schön. Lesen!


"Ich erzählte den Film nicht, ich spielte ihn. Mehr noch: ich lebte ihn."

In der kläglichen Armut einer Minensiedlung in der Atacamawüste in Chile lebt die zehnjährige María Margarita mit ihrem gelähmtem Vater und ihren vier Brüdern. Nach einem Unfall des Vaters im Salpeterabbau kann die karge Rente kaum mehr die Familie ernähren.
María denkt oft wehmütig zurück an glückliche Jahre, als die Mutter noch bei ihnen war, erinnert sich vor allem an gemeinsame Kinobesuche und den Zauber, wenn sie sich am Wochenende fertigmachten und anschließend - Mama an Papas Arm - zur frühen Abendvorstellung flanierten, um in die Fantasiewelt des Kinos einzutauchen und sich Helden und Illusionen hinzugeben.
Heute reicht das Geld dafür nicht mehr, aber damit der Familie eine Möglichkeit bleibt, "der Wirklichkeit zu entkommen", hat der Vater die rettende Idee, Maria alleine in die Vorstellungen zu schicken und sie nach ihrer Heimkehr zu bitten, wiederzugeben, was sie gesehen und bewegt hat. Erfreulicherweise ist María nämlich eine vorzügliche Filmerzählerin. Ihr gelingt der Augenaufschlag Marilyn Monroes ebenso wie die Kühnheit Ben Hurs. Und mit Hilfe von selbstgenähten Kostümen und passenden Requisiten lässt sie das Wohnzimmer der Familie zur großen Bühne werden und bannt die Zuschauer mit ihrer Begeisterung und ihrem Talent. Das oft trostlose Leben in der Wüste für mal zwei Stunden dem Vergessen anheimgeben, das gelingt María. 
Später beglückt sie nicht nur mehr sich selber und ihre Familie mit den Vorführungen, sondern auch Freunde und Dorfbewohner werden aufmerksam.

" Wenn sie Filme erzählt, ist Ihre Tochter wie eine Fee. Und ihr Zauberstab ist das Wort. Damit betört sie uns alle."

Schließlich geht sie auf Einladung auch außer Haus, um ihr Können, zu präsentieren.
An einem dieser Tage widerfährt ihr etwas, das sie tief verletzt und ihr all die Leichtigkeit nimmt, mit der sie bislang an ein bisschen Glück glauben konnte.
Hinzu kommt, dass der Vater stirbt und einer ihrer Brüder ins Gefängnis kommt. Um das Haus zu halten, muss Maria sich in eine üble Abhängigkeit begeben.
Es ist, als hätte in diesem fernen Stück der Erde das Unglück Einzug gehalten. Nach dem Putsch General Augusto Pinochets wird die Salpetermine geschlossen und die Eisenbahn stellt ihren Betrieb ein. 
In den Häusern laufen jetzt Fernseher und Marías Erzählzauber ist nicht mehr gefragt. 

"Das Fernsehen befiel die Siedlung wie eine unbekannte und hochgradig ansteckende Krankheit. "

María breitet ihr Leben wie einen Film vor sich selbst und vor uns Lesern aus und es ist, als suche sie damit Abstand. Als betreffe es nicht sie selbst, sondern nur das Mädchen, dessen Geschichte sie erzählt. Vor unseren Augen laufen Szenen filmgleich ab. Ein sehr schönes Bild sind die Seidentücher der Mutter, die den Roman durchziehen. Zu Beginn trägt die Mutter sie beim Besuch des Kinos, später flattern die Seidentücher im Wind, als die Mutter weggeht. Und in eíner dritten Szene spielen die Tücher eine tragische Rolle. 

"Ich sehe sie fortgehen, wie die Bewohner der Siedlung fortgegangen sind, sehe, dass sie am Horizont verblassen wie Trugbilder, während die Musik nach und nach leiser wird und über ihren Silhouetten entschieden und unausweichlich das Wort erscheint, das kein Mensch in seinem Leben lesen möchte":

ENDE



Samstag, 14. Mai 2016

"Eine überflüssige Frau" von Rabih Alameddine



Dieser Roman ist in Beirut zu Hause. Hier lebt Aaliya, eine inzwischen 72jährige Frau, die nie über die Stadtgrenzen hinausgekommen ist. Sie hält Rückblick auf ihr Leben, hadert mit ihrem Alter und der Einsamkeit. 
Mit sechzehn Jahren wurde sie von ihren Eltern mit einem älteren Mann verheiratet, aber es kam zur Scheidung, als die Ehe kinderlos blieb. Aaliya findet daraufhin ihr Glück in der Zurückgezogenheit, lebt für sich in einer kleinen Wohnung mit "übervollen Bücherregalen", einem alten Eichenschreibtisch und einem Chenille-Lesesessel. Sie gibt sich dem hin, was sie am liebsten tut: lesen und übersetzen. Einst hat sie es sich zur Lebensaufgabe gemacht, ihre Lieblingsbücher ins Arabische zu übersetzen. Diese Beschäftigung und bis vor wenigen Jahren auch die der Buchhändlerin füllten sie voll aus, schenkten ihr ein Gefühl von Wonne und Behagen. Literatur lag ihr am Herzen und entzückt tauchte sie tief in Werke von Dostojewski, Tolstoi, Nabokov, Marias, Rilke, Sebald und weitere. 
Ihr "Herz schäumt über von wunderschönen Wendungen und Phrasen."

Doch nun im Alter schleicht sich etwas Traurigkeit ein. Sie spürt ihre Isoliertheit und denkt über das Leben nach. Nachts hält sie "Audienz" mit ihren Erinnerungen, findet sich in ihrer Kindheit wieder, sieht die Mutter, die Halbgeschwister, das Beirut, in dem sie aufgewachsen ist und bedauert die Veränderungen in den Kriegsjahren.
Ist sie zur Außenseiterin geworden? Rührt daher das Gefühl, überflüssig zu sein ...?

"Niemand auf der ganzen Welt ist so überflüssig wie ich. Nicht Franz Tunda, Roths Hauptfigur, nein, ich bin diejenige, die keine Arbeit, keine Hoffnung, keinen Ehrgeiz, noch nicht einmal Liebe für sich selbst hat."

Da Aaliya von der Mutter nie sehr viel Zuneigung erfahren hat, zieht sie sich von ihr zurück. Einmal aber begibt sie sich auf den Weg zu ihr und es kommt zu einer sehr berührenden Szene, in der sie der schon schwachen Frau die Füße pflegt. Zu dieser körperlichen Nähe gesellt sich aber nicht die der Herzen. Es ist zuviel passiert. 

"Obwohl ich auch die Figuren eines Romans nur als Aneinanderreihung von Szenen kenne, als Ansammlungen von Sätzen in meinem Kopf, habe ich das Gefühl, sie besser zu kennen als meine Mutter."

Rabih Alameddine versteht es meiner Meinung nach, das Buch sehr schön ausklingen zu lassen, denn Aaliya macht eine Erfahrung, die sie Frauen aus der Nachbarschaft näher bringt. Sie könnte die Möglichkeit am Schopfe greifen ...

"Anfänge sind schwanger mit Möglichkeiten."

Es ist das erste Buch des Jordaniers Rabih Alameddine, das ins Deutsche übersetzt wurde. Ich würde mich über mehr Werke von ihm freuen. Zahlreiche Zitate aus Aaliyas Lieblingsbüchern beweisen, dass er selber sehr belesen ist. 
Ganz still kommt Rabih Alameddine mit dieser Veröffentlichung daher und bringt viel Poesie und schöne Metaphern mit.



Freitag, 13. Mai 2016

"Die Kunst des Erzählens" von James Wood


"Ein Autor muss in seinem Werk wie Gott im Universum sein, überall anwesend, aber nirgendwo sichtbar." (Gustave Flaubert)

Welcher Hilfsmittel bedient sich ein Autor, um den Leser zu bannen? Wie wichtig sind Erzählperspektive, Detailtreue, die Figuren und "das Abenteuer der Sprache"? Was bedeutet "erlebte Rede", wie wird Wahrhaftigkeit geschaffen und ist diese überhaupt von Relevanz?

James Wood führt sehr anschaulich Literaturzitate und erzähltechnische Beispiele an, um dem Leser aufzuzeigen, wie genial Autoren ihre Kunst und Fingerfertigkeit einsetzen, um Aura, Effekt und gar Zauber entstehen zu lassen.
Seine Ausführungen sind sachkundig und fundiert, aber hinter dem Wissen steckt der passionierte Leser. Wenn James Wood von der "Musikalität eines Satzes", von begnadeten Metaphern und runden Charakteren spricht, spüre ich, wie er für die großen Erzähler und ihre Glanzstücke glüht.
Allen voran ist es Gustave Flaubert, dessen präzise "Hingabe ans Detail" er insbesondere schätzt.

James Wood schreibt für den "New Yorker" und ist in Harvard auf den Lehrstuhl für praktische Literaturkritik berufen worden.

Samstag, 7. Mai 2016

"Fiasko" von Imre Kertész


"... zieht er sich in sein Fiasko zurück wie ein kranker Adler in sein Nest, die Schwingen gebrochen, aber noch mit ziemlich scharfem Blick."


Zu Beginn wird uns "der Alte" vorgestellt, ein zerstreuter Schriftsteller, dem die Idee für sein nächstes Werk fehlt und der in seiner kerkerartigen engen Wohnung unruhig hin- und herläuft. Wir erfahren, dass er bereits einen Roman veröffentlicht hat, aber seither mit "leeren Händen" wie "ausgeplündert" dasteht und keinen Stoff für ein neues Werk in sich verspürt.
Der Leser erfährt auch, dass der erste Roman des Autoren zunächst vom Verlag abgelehnt worden war, dann nach zwei Jahren doch herausgegeben wurde.

In dem Alten spiegelt sich Imre Kertész selber und das abgelehnte nebulöse Werk ist natürlich sein in Deutschland groß gefeierter "Roman eines Schicksalslosen".
Was viele nicht wussten: in Ungarn war dessen Verlegung tatsächlich erst abgelehnt und nachdem er doch erscheinen durfte, der Nichtbeachtung anheimgegeben worden. Für Imre Kertész, der dreizehn Jahre an diesem Herzstück geschrieben hatte, kam das einem Fiasko gleich. 

Dieses Buch nun dient der Aufarbeitung der damaligen Zurückweisung. "Ich war tief gekränkt." Aber auch die Ungeheuerlichkeiten von Auschwitz sind nochmal Teil des analytischen Prozesses. Losgelöst davon kann das "Fiasko" nicht betrachtet werden.
Man spürt, dass Imre Kertész nie abgeschlossen hat und gleich Sisyphos den Stein der Bewältigung unermüdlich Richtung Gipfel rollt. Schreiben als Möglichkeit sich zu offenbaren und mitzuteilen. Das war es, was Imre Kertész sein Leben lang antrieb.

"Wichtiger als der Roman ist das, was er durch sein Schreiben erlebt hat ..."

Im Versuch, sein eigenes Ich objektiver wahrzunehmen, ersinnt er in einer Art Innenroman die Person des "Steinig" (und hat damit den Anfang für seinen neuen Roman gefunden). Steinig lässt er Vergleichbares widerfahren, bürdet ihm eine ähnliche Vita auf. Dieser überlebt zum Beispiel seinen eigenen Tod .... Eine Formulierung, die verrät, wie geistreich und mit wachem Humor der Autor ans Werk geht.

Und der Protagonist findet sich ebenso in einem Gesellschaftssystem wieder, das mit bedrohlich kafkaesken"Straf- und Verfolgungsmaßnahmen" die Menschen zu lähmen versucht. Der Bürger ergibt sich alternativlos den Regeln. Ähnlich muss es Imre Kertész in Ungarn ergangen sein, als die Diktatur restriktiv wütete.

Immer noch ringt der Autor mit dem Schicksalsbegriff, fügt ihm aber einen neuen Aspekt hinzu: Steinig arbeitet im zentralen Militärgefängnis als Gefängniswärter und schlägt in einer Auseinandersetzung einem "verstockten Gefangenen" ins Gesicht. Eine "niemals heilende Wunde" so sieht es Wärter Steinig, denn die eigene Entgleisung entsetzt ihn maßlos. Eigentlich hatte er ein "guter Gefängniswärter" sein wollen.
So "zusammengesperrt" können Täter und Opfer leicht zu einer verhängnisvollen Schicksalsgemeinschaft werden, die die gegenseitige Herausforderung fast schon zwingend macht. 
Eine begnadete Szene, die dies schlüssig vor Augen führt.

Ein Buch, das mich gefordert hat! Der "Roman im Roman" (in dem von Steinig die Rede ist) verlangt einige Anstrengung. 
Hinzu kommt, dass Imre Kertész lange Jahre als Übersetzer gearbeitet hat und als Leser selber sehr bewandert und interessiert war. Viele Figuren und Zitate aus Werken der Weltliteratur haben ihn inspiriert und er lässt sie vielfach in sein Werk mit einfließen. Und zur Bewältigung seiner Zeit in den KZs Buchenwald und Auschwitz und später der fehlenden Anerkennung als Schriftsteller im kommunistischen Ungarn bemüht er darüberhinaus viele philosophische Werke und ihre Leitgedanken. Sein Wissensspektrum auf diesem Gebiet hat mich sehr beeindruckt. 

Ich möchte "Fiasko" ein unvergessenes Leseerlebnis nennen. Wer es nicht auf leichte Kost abgesehen hat, der kann es mögen. Ein anspruchsvolles Werk, das mich bis zur letzten Seite nicht losgelassen hat. Große Leseempfehlung!

Imre Kertész, ein stiller bescheidener Autor, aber für mich einer der Großen im Weltliteraturbetrieb.
2002 erhielt er den Nobelpreis für Literatur. 
Dieses Jahr am 31.03.2016 ist Imre Kertész in Ungarn verstorben.

"Um über unser Leben etwas sagen zu können, müssen wir unser Schicksal wertschätzen, mit kindlicher Hingabe ..."











Sonntag, 24. April 2016

Freitag, 22. April 2016

Warum in die Ferne schweifen, 
wenn solch Schönes in der Nähe glänzt?



Goethe-Museum im "Schloss Jägerhof" Düsseldorf


















Mittwoch, 20. April 2016

"Was das Meer ihnen vorschlug" von Tomás González


"Irgendwo hatte Javier gelesen, dass man nicht geboren wird, um glücklich zu sein, sondern um die Welt zu bestaunen."

Wer kennt nicht den Ausspruch, dass ein Unwetter etwas Reinigendes verspricht, als würden Naturgewalten über uns hinwegziehen und längst Überfälliges mitnehmen?
Dieser Roman ist aufgebaut wie ein Final Countdown, an dessen Ende sich ein Konflikt zuspitzt und nach Erleichterung schreit.

Superschönes Cover, ein Autor, der mir schon bekannt war und wieder eine Geschichte, die am Meer spielt. Für mich beste Voraussetzungen für angetane Lesestunden ...

In etwas mehr als vierundzwanzig Kapiteln, in denen die Uhr immer um eine Stunde vorrückt, lernen wir Javier und Mario kennen, sechsundzwanzigjährige Zwillinge, die zusammen mit ihrem Vater eine Ferienanlage an der kolumbianischen Küste betreiben. Der Vater begegnet seinen Söhnen mit Verachtung, erniedrigt und beschimpft sie und auch für seine Frau Nora bleibt nichts als Geringschätzung und Demütigung. Javier und Mario hängen sehr an ihrer inzwischen an Schizophrenie erkrankten Mutter, kümmern sich liebevoll, derweil der Vater bei seiner Geliebten verweilt.

Javier sucht seinen Rückzug in Büchern, liebt vor allem Shakespeare, der ihn "in tiefster Seele berührt". 
Seine Gedanken, als er mit seinem Bruder und seinem Vater auf's Meer hinausfährt: "Der alte Mistkerl und das Meer". 
Ein treffender Bezug zu dem Klassiker von Ernest Hemingway. 

Obwohl ein Unwetter vorhergesagt ist, gehen die drei leichtsinnigerweise auf Fischfang.
Wie sehr das Meer ihre Welt, ihr Zuhause ist, spürt man auf den folgenden Seiten. Tomás González fängt die Szenerie wunderbar ein: das Boot und die düstere Atmosphäre, in der jeder seinen Gedanken nachhängt. Rundherum das Spiel der Gewalten und als der despotische Vater über Bord geht, ergibt sich für Javier und Mario die Chance ...

Ohne viel vorweg zu nehmen: das Ende hat mich sehr verwirrt und bestürzt zurückgelassen ...
Vielleicht ein gutes Buch, um über Folgendes nachzudenken: wann eigentlich spricht man von einem Happy End?





Mittwoch, 30. März 2016

"Unterm Rad" von Hermann Hesse


"Er hatte jetzt kein anderes Verlangen als zu rasten, sich auszuschlafen, 
auszuweinen, auszuträumen ..."

Hans Gieberath wächst in einem kleinen "Schwarzwaldnest" auf und wird ob seiner schulischen Leistungen zur großen Hoffnung von Vater, Rektor und Stadtpfarrer und dem ganzen Dorf. Er wird angetrieben, bekommt zusätzliche Lehrstunden in Mathematik, paukt auch in den Ferien und schafft schließlich die Aufnahmeprüfung für das Zisterzienserkloster in Maulbronn, wo seine protestantisch-theologischen Studien beginnen.
Er muss sich vom "Glück der Kindheit" verabschieden, was ihn schmerzt, aber mit viel Fleiß und Ehrgeiz widmet er sich dem Lernstoff, spürt "Erkenntnisdurst" und die Hochachtung der Lehrer.

In seinem Jahrgang ist er nicht der einzige Sonderling. Ein weiterer Junge, mit Namen Hermann Feilner, fällt auf, ein eher unruhiger, rebellischer Geist, der mit Lernen nicht viel am Hut hat und die Lehrer gegen sich aufbringt. Hans ist fasziniert von ihm und ihn lockt das "Land der Freundschaft". Er verbringt viel Zeit mit Hermann und stellt schließlich seine schulische Beflissenheit hinten an.
Hermann wird wegen "Widersetzlichkeit und Entartung" der Einrichtung verwiesen und Hans kurze Zeit später gemüts- und nervenkrank nachhause geschickt. Die Schule spricht von einem "nervösen Schwächezustand".
Hans gerät also unters Rad.

"Nicht matt werden, sonst kommt man unters Rad" ist die Aussage von Lehrer Ephorus.

Der enttäuschte Vater zu Hause "beschwerte ihm das Herz" zusätzlich, lässt ihn den "abgebrochenen Lebensfaden" erst so richtig spüren. Hans gibt sich Erinnerungen an die Kindheit hin, denkt an den "Zauberwald" von damals, vor allem ans Angeln, das ihm immer eine besondere Freude war. Die "Neige des Herbstes" wird ihm gewahr und er fühlt sich mitvergehen und denkt gar an den Tod aus eigener Hand.
Sehr intensive schöne Zeilen, die wiedergeben, wie sich sein Gemüt in der Natur spiegelt. Hermann Hesse versteht sich auf solche Schilderungen ganz wunderbar.

Hans fängt sich und bemüht sich in einer Mechanikerwerkstatt um eine Lehrstelle zum Schlosser. Die Arbeit befremdet und ermüdet ihn. Er fühlt sich wie ein "kleinster Lehrbub".
Seine Liebe zu dem Mädchen Emma lässt ihn kurz aufleben, aber Emma geht weg aus dem Dorf und überlässt ihn "trostloser Grübeleien". Hans sucht Kontakt zu den anderen Lehrbuben, denn er sehnt sich nach Freundschaft. Als er mit den Kameraden einen "fidelen Sonntag" verbringt, möchte er so sehr dazugehören, dass er maßlos mittrinkt. Zunächst verschafft ihm das viel Spaß, doch es endet in "Scham und Selbstvorwürfen", als er alleine auf dem Heimweg ist. Hans steuert bewusst oder unbewusst auf den Fluss zu ...

"Wieder war Hans Giebenrath eine Berühmtheit geworden, für die sich jeder interessierte ..."


Der Leidensweg eines Musterschülers, der auch dann noch nicht zu Ende ist, als der äußerliche Druck nachlässt. Längst sind die übergroßen Erwartungen verinnerlicht und das Scheitern ins Herz gebrannt.

Hermann Hesse ist selber Schüler im theologischen Seminar zu Maulbronn gewesen. Wie Hans' Vater übte Hermann Hesses Vater immensen Druck auf seinen Sohn aus. Gleich der Figur des Hermann Heilners reagierte Hermann Hesse mit Rebellion und gleich der Figur des Hans mit Depression.
Die stark autobiographischen Züge dieser Erzählung verleihen ihr einen zusätzlichen Reiz.

Eine Lektüre, die ich empfehlen möchte.
Die geschilderten Umstände treffen auch heute - etwa 120 Jahre später - noch auf viele Schüler zu.
Es ist ein gescheites, kluges Werk und eines Themas, dessen Hesse sich in zahlreichen seiner Werke annahm: der Konflikt um die Anpassung an die durch die Gesellschaft bestimmten Normen.

Hermann Hesse schreibt zart und poetisch und lässt den Leser tief in die Seele des Hans Giebenrath blicken. Seine Innenwelt spiegelt sich in der Natur und in den Dingen. Wunderschön zu lesen.




Sonntag, 27. März 2016

"Herrn Arnes Schatz" von Selma Lagerlöf



Selma Lagerlöf ist heute ein wenig in Vergessenheit geraten. 1909 erhielt sie als erste Frau den Nobelpreis für Literatur und zweifelsohne zählen ihre Werke zur Weltliteratur. Allen voran ist wahrscheinlich "Nils Holgersson" bekannt, aber Selma Lagerlöf hat auch sehr viele Romane und Erzählungen für Erwachsene geschrieben. Angesiedelt sind ihre Geschichten stets im schönen Schweden und immer schwingt etwas Mythisches und Sagenumwobenes mit. Überdies rückt sie gerne die Frage nach Bürde und Schuld ins Zentrum und lässt ihre Protagonisten nicht zur Ruhe kommen, bevor sie sich nicht in Einsicht und Läuterung geübt haben. 

Elsalill, ein junges Mädchen, erlebt den Überfall auf einen schwedischen Pfarrhof und bleibt als einzige Zeugin zurück. Drei Schotten ermorden den Pfarrer samt seiner Familie und machen sich mit einer Kiste voller Geld (Herrn Arnes Schatz) aus dem Staub. Da die Männer als Gerber verkleidet waren, erkennt Elsalill die Mörder nicht, als sie sie später am Hafen trifft. Erst als der Geist der kleinen toten Pfarrerstochter es ihr gewissermaßen einflüstert, erinnert sie sich. Inzwischen hat sie sich jedoch in einen der Männer verliebt und ringt in unermesslicher Pein mit sich, ob sie ihn verraten soll oder nicht.
Wunderschön auch die Rolle, die die Natur spielt: das Schiff, auf dem die drei Schotten die Schatzkiste nachhause führen wollen, kann nicht auslaufen, da das Meer zugefroren ist. Als wollte auch die Natur, dass erst Recht gesprochen wird ... was für ein bewegendes, starkes Bild!

Diese Geschichte von Selma Lagerlöf hat mich sofort gepackt. Sie entwickelt einen dramaturgischen Sog und der Leser möchte gerne wissen, wohin sie führt. Einmal begonnen, kann man sie nicht wieder aus der Hand legen.
Trotz der Tendenz zum Märchenhaften ist die Sprache ganz klar und ungeziert.
Dieses Buch ist ein kleiner Schatz. Und der Manesse-Verlag würdigt es in dieser schönen Ausgabe.




Mittwoch, 23. März 2016

"Die große Zukunft des Buches" von Umberto Eco und Jean-Claude Carrière


"Wir leben in keiner beschaulichen Gegenwart mehr, sondern wir stehen vor der Anforderung, uns ständig auf die Zukunft vorzubereiten."                              (Umberto Eco † 19.02.2016)


Zunächst bewegt sich dieses Werk zurück ins Kulturgeschichtliche, beginnt mit der Papyrusrolle und dem Kodex, beleuchtet also die ersten Bestrebungen, Schriften zu hinterlassen. In der heutigen Zeit angekommen werden die Vor- und Nachteile der Digitalisierung und der elektronischen Lesegeräte diskutiert. Zum Gespräch zusammengekommen sind Umberto Eco und Jean-Claude Carriére, zwei kluge alte passionierte Leser und Büchersammler, und sie fesseln ob ihrer Gelehrtheit und ihrer Begeisterung für das Kulturgut Buch. Lehrreiche Exkurse zu Buchreligionen, Inkunabeln und in den Zauber altertümlicher Bibliotheken fesseln den Leser und darüberhinaus lauscht man den beiden Bibliophilen auch gerne, wenn sie einfach von der Lust am Lesen (die zur "regelrechten Perversion" werden kann), vom Schwindel beim Anblick von Bücherwänden und der Liebe zu einem besonderen Sammlerstück sprechen. Wissen gepaart mit Leidenschaft. Das macht dieses Buch aus.

Beide sind sich gewiss: das gedruckte Buch wird nicht "aus unseren Häusern und unseren Gewohnheiten" zu verdrängen sein. Die Lektüre an Bildschirmen und der Lesestoff in der Hand werden immer nebeneinander Bestand haben.

"Zusammengerechnet besitze ich an meinem Hauptwohnsitz und an verschiedenen Nebenwohnsitzen insgesamt fünfzigtausend Bücher." (Umberto Eco)

www.youtube.com/watch?v=UoEuvgT1wBs


"Der Leuchtturm" von Jean-Pierre Abraham



"Ist mein Leuchtfeuer klar, sind auch meine Gedanken etwas klarer."

Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Sieben Monate, von November bis Mai, verbringt der Erzähler Jean-Paul auf dem Leuchtturm ArMen vor der bretonischen Küste. Sein Aufenthalt ist von nur seltenen Landgängen unterbrochen. In Form eines Tagebuchs hält er das Leben dort fest, die täglichen Arbeiten, den Kampf gegen die Unbill des Wetters und die Auseinandersetzung mit Kargheit und Einsamkeit. Dienst wird im Zweimannbetrieb übernommen, die Arbeiten werden gemeinsam ausgeführt und gegessen wird zusammen, aber darüber hinaus ist jeder für sich und ringt mit seinen Stimmungen. Vor allem befindet man sich in Auseinandersetzung mit dem Wetter. Kommt es zu tagelangen "Verfinsterungen", wirkt sich dies auf das Gemüt aus.

"Ich aber brauche Licht, giere förmlich nach Licht."

Die Männer haben aber auch das Gefühl "am wahren Platz zu sein ... immer, wenn sie auf den Leuchtturm zurückkehren, "ist ArMen eine Heimkehr".

... ein Zitat

"Eine Welle nach der anderen schien kurz innezuhalten, wogte alsdann heran, türmte sich hoch, ehe sie mit erstaunlicher Geschwindigkeit am Leuchtturm zerbarst. Sie verschwand unter der Galerie. Den Aufprall hörten wir nicht, doch die Laterne begann zu vibrieren. Augenblicke später peitschte ein weißer Schwall gegen die Fensterscheiben, prasselte auf die Kuppel hernieder, schneeweißes Licht umhüllte uns. Wir waren wie trunken."

... das bewegte Herz

"Friedliches Rauschen" und "Meerestosen" und Jean-Pauls Innenwelt, die sich darin spiegelt.

... die Sprache

Sehr klangvoll, lyrisch. Kurze Sätze, so als müsste viel in kurzer Zeit notiert werden. Eine Sprache, die passt und die ich gerne gelesen habe.

... der Autor

Jean-Pierre Abraham hat tatsächlich drei Jahre als Wärter auf dem Leuchtturm ArMen (bretonisch: Der Felsen) verbracht. Das Tagebuch gibt diese raue Zeit wieder.


"Die Verwundung und andere frühe Erzählungen" von Heinrich Böll


" ... es war eine prachtvolle Verwundung, wie gemalt, es würde mindestens vier Monat dauern, ehe das Loch zu war, dann war der Krieg zu Ende."

Heinrich Böll

Im Sommer 1939 schreibt sich Heinrich Böll an der Universität Köln als Student ein, kurz darauf wird er zur Wehrmacht einberufen. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs bleibt er verpflichtet, zunächst nur im Telefon- oder Wachdienst, doch in den letzten zwei Kriegsjahren muss er an die Ostfront. Nach eher leichten Verletzungen hat er das Glück, sich ins Lazarett und zur Genesung zurückziehen zu dürfen. 
In der Endphase des Krieges unternimmt er den Versuch zu desertieren, wird aber aufgehalten und wieder einer Einheit zugeführt.

Nach dem Krieg beginnt Böll unter dem Eindruck des Selbsterlebten mit dem Schreiben, versucht das Grauen in Sprache zu fassen, benennt den Wahn, die Schuld und Verantwortung Deutschlands und setzt sich mit der moralischen Not auseinander, in die er selbst geraten war.
In seinen Kurzgeschichten beschreibt er das Leben und Sterben der Soldaten an der Front und den Hunger in den Trümmern der Nachkriegszeit.

Nach dem Tod von Heinrich Böll wurde in enger Kooperation mit der Erbengemeinschaft in der Stadtbibliothek Köln eine Chronik zu Leben und Werk des Autoren aufgebaut. Unter anderem ist das Original-Arbeitszimmer von Heinrich Böll zu sehen.


Das Buch

Die Geschichten in diesem kleinen Band erzählen bewegend von Soldaten, die in einem Krieg kämpfen, hinter dem sie nicht stehen. Viele wünschen dem eigenen verhassten Leutnant den Tod oder gar sich selber, um dem Wahnsinn zu entkommen. Von "Menschenmetzgern" ist die Rede und von Schweinen, die den Krieg angefangen haben ... Eine Verwundung wird als "prachtvoll" betrachtet, denn sie bedeutet eine Auszeit im Lazarett. Die Männer möchten keinen Heldentod sterben, pfeifen auf die Tapferkeit. "Beißend und böse" quält sie der Hunger, gleich "wölfischer Gier". Auch nach dem Krieg ist der Hunger stets präsent. Heinrich Böll erzählt zum Beispiel die Geschichte eines Sechzehnjährigen, der versucht sich umzubringen, weil er die Lebensmittelkarten seiner Familie verloren hat.
Die Erzählungen beeindrucken als Dokument eines Krieges, der nicht verdrängt werden darf. Frühes Mahnwerk des Antikriegsliteraten Heinrich Böll. 




Montag, 14. März 2016

"Der Überläufer" von Siegfried Lenz


"Man muss die Kraft haben, einer Sache, der man zwanzig Jahre nachgelaufen ist, einen Fußtritt zu geben, wenn man einsieht, dass diese nicht nur falsch, sondern gemein, hinterhältig, gefährlich und mörderisch ist."


Dieses Buch ist eine kleine Sensation, denn bereits vor fünfundsechzig Jahren geschrieben, ist es jetzt erst vom Hoffmann und Campe Verlag herausgegeben worden. Der Verlag räumt ein, Siegfried Lenz damals die Veröffentlichung verweigert zu haben, da das politische Klima es verbot. Zu brisant schien die Thematik des Überlaufens von der deutschen Wehrmacht zur Roten Armee.

Im Roman ist es Walter Proska, fünfunddreißig Jahre alt, der beschließt die Fronten zu wechseln. Zunächst ist er einer kleinen Einheit zugehörig, die im Wald verschanzt regelmäßig ihre Soldaten auf Patrouille schickt, um eine Bahnlinie zu bewachen. Die Lage scheint schier aussichtslos, die Befehle des vorstehenden Kommandanten werden zu Hohn und Willkür. Einige der Kameraden kommen in der aberwitzigen Raserei zu Tode, andere enden im Wahnsinn. Walter freundet sich mit dem Studenten Wolfgang an. "Ich weiß, du hast gelehrte Läuse im Kopf", flüstert er beeindruckt und lauscht Wolfgangs Worten, die falsche Vaterlandsliebe an den Pranger stellen und "aktiven Pazifismus" beschwören. Besser sei man "ein Überläufer, ein Schwein, ein Verräter" als ein Soldat ohne Selbstachtung. Erst wenn man den Wahn des "Deutschen Hochmuts" bekämpft, kann man sich auf der Seite der Gerechten wiederfinden.

Diese Worte, die Proskas Kamerad spricht und die Proska schließlich bewegen, tatsächlich ins Lager der Partisanen zu wechseln, machen offensichtlich, warum der Hoffmann und Campe Verlag 1951 Bedenken äußerte und Siegfried Lenz' Vorlage nicht druckte. Im Anhang des nun erschienenen Buches veröffentlicht der Verlag den damaligen Schriftwechsel mit dem Autoren Lenz, um dem Leser nichts vorzuenthalten.
Diese Umstände haben sicher viele neugierige Leser auf den Plan gerufen, denn es ist beachtlich, wie rasch die Verkaufszahlen dem Roman Platz eins auf der Spiegelbestsellerliste beschert haben. In meiner Jugend verschlang ich einige Werke (allen voran natürlich "Die Deutschstunde") dieses großen deutschen Schriftsteller der Nachkriegsliteratur. Ob durch die Pressemitteilungen vielleicht jetzt auch jüngere Leser auf ihn aufmerksam geworden sind? Das würde die nun bereits dritte Auflage erklären. 

Siegfried Lenz verarbeitet in seinem Antikriegsroman höchstwahrscheinlich eigene Erlebnisse, denn kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs desertierte der Autor in Dänemark aus der Marine.

Mit der Figur des Walter Proskas schafft er einen sympathischen nachdenklichen Protagonisten, der in der ohnehin recht schrulligen Wehrmachtseinheit gar etwas burlesk rüberkommt. Beängstigende Szenen sind so lapidar-derbe und zynisch-mitleidslos geschildert, dass der Leser etwas Abstand nehmen kann zu dem Unvorstellbarem. 
Nichtsdestotrotz ist natürlich die Not des Proskas präsent, der die Waffe auf den Feind richtet und abdrückt, um selber zu überleben.

"Aber ich bin hier; und es ist Krieg und wir beide, du und ich, haben uns danach zu richten. Wir haben dem Krieg zu gehorchen, auch wenn wir ihn hassen wie die Pest. Schließlich möchten wir ja beide leben, du und ich, und wer im Krieg leben bleiben will, hat an nichts anderes zu denken als an sein Blut." 

Ganz großen Kummer verspürt er, als ein Mensch, der ihm nahe steht, durch seine Hand zu Tode kommt.

Der Roman schenkt uns auch eine Liebesgeschichte, die im tröstenden Kontrast zum geschilderten Grauen steht. Proska lernt die Partisanin Wanda kennen und lieben. Es bleibt die Frage, ob Wanda den Krieg überlebt und die beiden sich wiedersehen. Wanda trägt sein Kind unter ihrem Herzen ...

Sprachlich haben mir vor allem die Gemüts- und Landschaftsbeschreibungen gefallen. Proska schaltet im Anblick der Natur ab, genießt Stille und Zurückgezogenheit. Derweil lauert der Feind hinter dem Kadick ...
"Kadick" war mir gänzlich unbekannt ... Für die Leser, denen es genauso geht: es handelt sich um Wacholder!


Montag, 7. März 2016

"Vom Ende der Einsamkeit" von Benedict Wells



" Eine schwierige Kindheit ist wie ein unsichtbarer Feind, dachte ich. 
Man weiß nie, wann er zuschlagen wird."

Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Im Mittelpunkt dieses Romans steht ein junger Mann, der nach einem Motorradunfall sein Leben Revue passieren lässt. In jungen Jahren die "rauschhafte, alberne Unbeschwertheit" der Kindheit und dann die Zunahme von Ängsten, zuallererst ausgelöst durch den Verlust seiner Eltern. Jules kommt mit elf Jahren zusammen mit seinem Bruder und seiner Schwester ins Internat, doch werden die Geschwister dort getrennt und jeder muss für sich alleine den Tod der Eltern verarbeiten. Jules trägt besonders schwer daran, wird zu einem Einzelgänger und verträumten Eigenbrötler. Nur Alva, eine Klassenkameradin, scheint ihm seelenverwandt und Jules öffnet sich ihr ganz zaghaft. Alva kann seine Liebe nicht erkennen und die beiden verlieren sich nach der Schule aus den Augen. Jahre müssen vergehen, bevor sie sich wiedersehen und zu dem Zeitpunkt ist Alva bereits verheiratet ...

Inhaltlich hat dieser Roman die Dimension eines echten Schmökers, beschränkt sich aber auf etwa dreihundertfünfzig Seiten und die Ereignisse drängen sich. Mit Alva und Jules geht es nach dem Wiedersehen fesselnd und voller Emotionen weiter und es wird gar sehr traurig. Große Themen wie Verlust und Trauer werden berührt, aber auch Mut und die Überwindung von Angst. Von Gewicht ist der Rückblick in die Kindheit und die Frage, ob Brüche in dieser frühen Zeit überhaupt gänzlich verarbeitet werden können. Kann man Ängste in den Griff bekommen oder müssen sie sich zwangsläufig "wie ein sich ausbreitender Riss" vergrößern? Könnten die schönen und tragischen Begebenheiten im Leben ein "Nullsummenspiel" ergeben? Und macht es Sinn, im Leben nachträglich über Weichen nachzudenken, wenn man doch so und so nicht zurück gehen und einen anderen Abzweig nehmen kann.
Benedict Wells ist gerade mal einunddreißig Jahre alt und in seinem Roman findet sich überraschend viel Weisheit und Intuition in Problem- und Lebensbewältigung. 

Allerdings wirkt mir das Werk etwas überfrachtet, als hätte Benedict Wells sich sehr viel für seinen Roman vorgenommen und auf keine der großen Lebensfragen und Antworten verzichten wollen.
Und leider bin ich mit dem Schlussakkord nicht ganz glücklich, ich möchte sagen ein Ende, dem ich nicht traue ... es kommt mir zu leichtfüßig daher nach der schweren Kost.

Trotzdem kann ich eine Leseempfehlung aussprechen, denn der Roman hat ansonsten Tiefe und ist sowohl im Aufbau als auch sprachlich eine Freude.

... ein Zitat

"Es gibt Dinge, die ich nicht sagen, sondern nur schreiben konnte. Denn wenn ich redete, dann dachte ich, und wenn ich schrieb, dann fühlte ich. Wir lagen auf meinem Bett. Alva biss in einen Apfel und überflog die Zeilen. Gespannt sah ich zu. Einmal musste sie beim Lesen lachen, und da fühlte ich mich wie auf einer nächtlichen Straße, auf der schlagartig alle Laternen angegangen waren. Irgendwann schlief ich ein. Mitten in der Nacht kam ich kurz zu mir, da las Alva noch immer neben mir, sie schien mitgenommen und sagte, der Text würde ihr sehr nahe gehen."


... das bewegte Herz

Benedict Wells versteht es sehr gut, Gefühle lebendig zu machen. 
Während die Liebe zu Alva mir schon fast zu pathetisch ist (auch wenn Benedict Wells sagt, das Pathetische läge ihm fern), bin ich höchst fasziniert, wie er die Geschwister kommunizieren lässt. Sie suchen mal die Nähe, mal den Abstand, begegnen sich mit Wertschätzung und pflegen einen flammenden Austausch. Die Dialoge haben mich sehr bewegt. 

... die Sprache

Zart und poetisch, dabei fließend und leicht zu lesen. Sehr schöne Bilder.