Donnerstag, 26. Januar 2017

"Der letzte große Trost" von Stefan Slupetzky


"Siebzehn Jahre lang war es ein Geisterhaus, eine Gruft der zerbrochenen Seelen."

Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Stefan Slupetzkys Anliegen ist es, in diesem Roman die Geschichte seiner Großeltern zu erzählen. Diese Absicht äußert er in einem Interview gegenüber der Wiener Zeitung. Verarbeiten möchte er die Tatsache, dass sein Großonkel im Nationalsozialismus mit Zyklon B viel Geld verdient hat. In seinem Buch lässt Stefan Slupetzky diesen Großonkel in die Figur von Daniels Großvater schlüpfen.

Der erste Teil des Buches widmet sich der jüdischen Familie von Daniels Mutter, erzählt von ihrer Flucht nach Israel zu Beginn des zweiten Weltkrieges. Viele Familienmitglieder kommen später um oder wandern nach Amerika aus. Der Leser ist geneigt, sich möglichst viele der genannten Namen zu merken in der Annahme, dass sie im Verlauf des Romans nochmals eine Rolle spielen werden (tun sie aber leider nicht). 
Daniel erfährt die vielen Einzelheiten in einem Brief, den seine Großtante Ruth ihm aus Israel schreibt. Sie kündigt außerdem den Verkauf von Daniels leerstehendem Elternhaus bei Wien an und rät ihm, vor Ort noch persönliche Dinge zu sichten und an sich zu nehmen, damit sie nicht verloren gehen.
Daniel folgt diesem Aufruf und findet im Keller des Hauses ein Schreibheft seines Vaters, nach dessen Lektüre ihn ein schlimmer Verdacht quält. Dieser betrifft den Tod seines Vaters, genau genommen kommt Daniel die verrückte Idee, sein Vater könnte ihn nur vorgetäuscht und woanders neu angefangen haben. Der Gedanke lässt ihn nicht los, vergiftet sein Leben und führt zu eigenen Aussteigerphantasien. Dabei ist er eigentlich mit seiner Frau Marion und den Zwillingen Michael und Anna sehr glücklich.

... ein Zitat

"Er hatte früher oft darüber nachgedacht, dass jede Form der Existenz nur einen winzig kleinen Stein im Mosaik der nicht gelebten Möglichkeiten bildete, dass jeder eingeschlagene Weg nur einer unter Myriaden anderer, nie beschrittener Wege war. Sobald man seine Wahl getroffen hatte, schloss man alle anderen Wahlen, die man hätte treffen können, aus."

... was mich bewegt hat

Absolut bewegend sind die Gefühle für den Vater und was in Daniel vorgeht, als er ihn verliert.

... die Sprache

Sprachlich hat mich der Roman überzeugt! Stefan Slupetzky ist ein sowohl sanfter als auch packender Erzähler. 

... ein Fazit

Leider 😕 hat sich Stefan Slupetzky für sein Buch zuviel vorgenommen. Die beiden Handlungsstränge "nationalsozialistische Vergangenheit" und "persönliche Identitätssuche" wollen nicht so recht zusammenkommen. Vor dem Hintergrund der vom Autor so wichtig bemessenen Verarbeitung seiner Familiengeschichte kommt mir das Ende des Buches schrecklich banal vor.



"Eine Million Minuten" von Wolf Küper


"Wir hatten uns in einer Million Minuten verändert, jeder für sich und alle gemeinsam."

Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Dieses Buch ist viel mehr als eine Story, denn Wolf Küper erzählt aus seinem eigenen Leben. 
Nina, seine Tochter kommt mit einer Behinderung zur Welt, diagnostiziert werden schwere Bewegungs- und Koordinationsstörungen, wodurch sie sich stark verzögert entwickelt. Mit der "überflüssigen Hektik" der Erwachsenen kommt sie nicht klar, sie macht lieber "lamsang" und alles ohne "Hastik", wie sie selber sagt.
Wolf und seine Frau Vera werden ihr im stressigen Alltag einfach nicht gerecht, zumal Wolfs Karriere als internationaler Umweltwissenschaftler ihm nicht viel Zeit für die Familie lässt. 
Eines Abends, als wieder nur zehn Minuten Zeit für's Vorlesen bleiben, wünscht Nina sich von Herzen "eine Million Minuten. Nur für die ganzen schönen Sachen".
Bei den Eltern setzt ein Umdenken ein, sie beginnen "in Zeit zu rechnen", nicht mehr in Geld. Eine Million Minuten, das wären etwa zwei Jahre Entschleunigung für alle. Wolf kündigt seinen Job, alles an Hab und Gut wird verkauft und die Familie bricht auf, erst nach Thailand, dann nach Australien und Neuseeland.
Zunächst diagnostiziert Wolf an sich selber ein "adultes Fantasiedefizit", er ist überfordert, sobald er Zeit ohne festen Plan verbringen soll. Aber es stellt sich als Lernfeld raus, von dem auch er profitiert. Für Nina bedeutet es, dass ihr Eltern endlich auch mal "lamsang" machen und auf sie eingehen können. Viele berührende Momente und Erfahrungen sind beschrieben.
Nach den zwei Jahren ist es zunächst schwierig, sich in Bonn wieder einzugliedern, aber Nina und ihrem Bruder Simon gelingt das recht gut und Wolf Küper resümiert, damals richtig entschieden zu haben.
"Wir waren mehr Familie geworden, als ich mir jemals hatte vorstellen können."

... ein Zitat

"Sie musste mich beobachtet haben, wie ich wieder einmal mit zusammengepressten Lippen und angehaltener Luft neben ihr stand, während sie seit einer halben Ewigkeit versuchte, sich eine Socke alleine anzuziehen. Das passierte mir in letzter Zeit häufiger - ich vergaß einfach auszuatmen, vor lauter Zeitdruck. Da hörten ihre Hände auf mit dem hilflosen Gezerre, sie schaute zu mir hoch und lächelte beruhigend: "Keine Hastik", sagte sie. 
Wir hatten ziemlich viel Glück, dass dieses kleine Mädchen so viel Geduld aufbrachte gegenüber unserer Ungeduld."

... was mich bewegt hat

Wolfs liebevoller Umgang mit seiner kleinen Tochter. Und die berührenden Gespräche, die die beiden führen

... die Sprache

Wolf Küpers Sprachgewandtheit macht das Buch zu einem Genuss. Ein intelligenter Erzähler mit viel Feingefühl.

... ein Fazit

Unbedingte Leseempfehlung!














Sonntag, 22. Januar 2017

"Ergebenst, euer Schurik" 
von Ljudmila Ulitzkaja


"Sein innerer Feind, sein wundes Gewissen, sandte ihm von Zeit zu Zeit realistische, unerträgliche Träume ..."

Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Schurik wächst in Moskau vaterlos, dafür aber in sehr enger Bindung zu Mutter Vera und Großmutter Jelisaweta auf. Beide Frauen konzentrieren sich ganz auf ihn, lieben und fördern ihn ob all ihrer Möglichkeiten. Jelisaweta, Philologin und Hochschulprofessorin, schult vor allem seinen Geist und Vera, gescheiterte Schauspielerin weckt das Künstlerische in ihm. Während ihm der Vater augenscheinlich gar nicht fehlt, nimmt doch seine Entwicklung merkwürdige Züge an. Gewöhnt daran, sich ganz und gar Frauen anzupassen, misslingt es ihm mehr und mehr, befriedigende Beziehungen zu Frauen aufzubauen. Schurik, viel zu herzensgut und schwach, gibt sich immer ganz den Bedürfnissen der Partnerinnen hin. Fast unschuldig wird er zum Tröster vieler Frauenseelen, weiß er doch, wie ihre Herzen schlagen und wie er ihnen gut tun kann.
Mutter Vera lässt ihm nicht wirklich genug Zeit und Raum, um all die Frauen zu besuchen, die nach ihm rufen. Schurik kämpft mit Zwiespalt und Schuldgefühlen. Er schläft oft aus purem Mitleid mit seinen Freundinnen und anschließend eilt er schnell zurück zur abgöttisch geliebten Mutter zurück, die in der gemeinsamen Wohnung auf ihn wartet.
Am Ende erkennt er, dass es doch eine Frau in seinem Leben gegeben hat, die er aufrichtig und ausgefüllt geliebt hat. Lilja, so wie sie heißt, ist aber nach Israel ausgewandert und geht nach einem kurzen Besuch bei Schurik dorthin zurück. Leider spielt Lilja eher mit ihm, doch Schurik ist selig, wenigstens einmal die große Liebe erlebt zu haben.

... ein Zitat

"Mutter und Großmutter, zwei breitflügelige Engel, standen stets zu seiner Linken und zu seiner Rechten. Diese Engel waren nicht fleisch- und geschlechtslos, sondern spürbar weiblich, und von klein auf bildete sich bei Schurik unbewusst das Gefühl heraus, das Gute an sich sei etwas Weibliches, das von außen kam und ihn, der im Zentrum stand, umgab ... Er dankte ihnen ihre Liebe mit vollkommener Gegenseitigkeit ..."

... was mich bewegt hat

Der schwache Schurik, der es allen recht machen möchte. Und betrüblich ist, dass der Roman ihm eigentlich gar keine Entwicklungsmöglichkeiten einräumt.
Jelisawetas und Veras Liebe für ihn habe ich als sehr bewegend und intensiv beschrieben empfunden.

... die Sprache

Amüsant und doch mit Tiefgang. Sprachlich liegt die Autorin mir sehr, ich mag das Exakte und scharf Beobachtende, wenn es um ihre Figuren geht.

... ein Fazit

Ljudmila Ulitzkaja, die gerne Frauengestalten in den Mittelpunkt ihrer Geschichten rückt, hat im Grunde auch in diesem Roman nichts anderes getan. Schurik bleibt erstaunlich farblos und wiederholt sich in seinen verzweifelten Versuchen, die Frauen zu beglücken. Der Kern und das eigentlich Faszinierende in diesem Buch sind die skurrilen Frauen, die Ljudmila Ultzkaja gerne mit einem Makel ausstattet. Da ist zum Beispiel die zierliche Lilja mit ihren krummen Beinen und abstehenden Ohren oder die verrückte Swetlana "mit ihrer bläulichen Gänsehaut".
Wirkliche Persönlichkeiten sind Schuriks Mutter und Großmutter. Diese beiden Frauen alleine lohnen den Roman schon.
Ich habe dieses Buch sehr gerne gelesen, manch ein Leser mag es aber als langweilig empfinden, vor allem, da es an Handlung mangelt.






"Ein Leben mehr" von Jocelyne Saucier


"Wenn er draußen in der Natur tief durchatmete, empfand er sich als Teil von etwas Größerem, als Teil des Universums."

Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Ted, Charlie und Tom, drei alte Männer, haben sich in Nordkanada in die Wildnis zurückgezogen, leben dort in einfachen Hütten, stellen Fallen auf und angeln, helfen einander und wissen, sie haben hier die Form von Freiheit gefunden, die sie anderswo vermisst hätten. Selbstbestimmt leben und sterben können. Das konnten sie nur als Aussteiger verwirklichen und in heimlicher Einsiedelei. Würden sie entdeckt und würde die Hanfplantage auffliegen, hätte ihr Glück ein Ende ...
Aber auch ihr Ende möchten sie selbst bestimmen, denn in der Küche auf dem Bord steht eine Salzdose, in der sich in Wirklichkeit Strynchin befindet. 
Der Tod ist allgegenwärtig und doch bestimmt er nicht vorrangig das Leben in dieser verschworenen Gemeinschaft. 
Ted stirbt schließlich eines natürlichen Todes und eine junge Fotografin sucht die Zurückgezogenen auf, weil sie die Lebensgeschichte just dieses Teds recherchieren wollte. Er verlor 1916 im Großen Brand von Matheson seine Familie, überlebte und wurde zur Legende.
Außerdem stößt die alte Gertrude zu ihnen, auf der Flucht vor einer erneuten Einweisung in die Psychiatrie. Beide Frauen ändern das Gefüge in der "Lebensgemeinschaft Wald".

Für mich entsteht nicht nur "Ein Leben mehr", wie der Buchtitel es andeutet. Die Geschichte offenbart zwei Leben mehr. Zum einen das von Ted, das erst in liebevoller Recherche durch die Fotografin entsteht und in dem hunderte von Gemälden eine Rolle spielen.
Das zweite Leben mehr ist das von Gertrude und Charlie, denn sie verlieben sich auf ihre alten Tage, was alles für sie ändert.

Schließlich stört eine Razzia der Polizei den Frieden im Wald, die alten Leute verschwinden und mit ihnen die Strynchindosen ...

... ein Zitat

... zur Fotografin
"Ich liebe Geschichten, ich liebe es, wenn man mir ein Leben von Anfang an erzählt, mit allen Umwegen und Schicksalsschlägen, die dazu geführt haben, dass ein Mensch sechzig oder achtzig Jahre später vor mir steht, mit einem ganz bestimmten Blick, ganz bestimmten Händen und einer ganz bestimmten Art zu sagen, dass das Leben gut oder schlecht gewesen ist."

... zum Leben in der Wildnis
"Ob die Sonne scheint oder es schneit, es ist ein schöner Moment, denn es gibt immer etwas zu beobachten, den Schnee, die Sonne, den Wind, eine Hasenspur, eine vorbeifliegende Krähe, das erwachende Leben ..."

... zum Tod
"Wenn man die Freiheit hat, zu gehen, wann man will, entscheidet man sich leichter für das Leben."

... was mich bewegt hat

Die abgeschiedene Gemeinschaft der Drei und die Faszination des Alters, der die Fotografin nachspürt. Ein Buch über das Leben, obwohl der Tod "immer in seinem Versteck" lauert.

... die Sprache

Leise Töne, die zur Landschaft und Abgeklärtheit der in ihr lebenden Menschen passen. Gefällt mir sehr gut.

... ein Fazit

Auf jeden Fall lesenswert! 
Einfühlsam, aber auch unterhaltend. Besonders spannend wird es zum Ende hin. Alles rund.