Dienstag, 25. April 2017

"Das Flirren am Horizont" von Roland Buti


"Ich war Teil dieses Hauses, in dem jeder in seinem eigenen Winkel kämpfte."

Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Gus ist dreizehn Jahre alt und lebt mit seinen Eltern, seiner Schwester und dem etwas zurückgebliebenen Rudy auf einem abgelegenen Hof in der Schweiz. Während des brütendheißen Sommers 1976 verändern sich die Strukturen in dieser Familie, als sei die Hitze den Menschen in den Kopf gestiegen und ließe alles aufkochen, was bis dato unter einer glatten Oberfläche friedlich geruht hatte. Die Mutter beabsichtigt, die Familie zu verlassen, was die Gemeinschaft zum Kippen bringt. Gus tröstet sich mit einer verletzten Taube und schließlich mit Mado, einem Mädchen aus der Nachbarschaft. Die Hauptfigur dieses Romans ist der Vater, der den Hof mit viel Leidenschaft betreibt und der nun doch mit ansehen muss, wie alles zugrunde geht. 
Roland Buti führt seinen Roman auf die Spitze und das macht er hervorragend. Vorhersehbar ist eigentlich nichts, sondern der Leser wird gerne überrascht. Daher sei hier auch nicht mehr verraten.

... ein Zitat

"Ich wanderte an der Mauer des Gemüsegärtchens entlang in der Hoffnung, mir dadurch einen Hauch von Erfrischung zu verschaffen. Die Krallen meiner Taube bohrten sich in meine Schulter, und ich fing an zu laufen, um dem Vogel ein Gefühl des Fliegens zu vermitteln. Aber es war eindeutig zu schwül dafür. Erschöpft streckte ich mich in dem dürren Gras aus, das sich unter mir anfühlte wie eine abgewetzte Fußmatte."

... was mich bewegt hat

Die so brillant gezeichneten Figuren haben mich sehr bewegt. Gus lernt man sehr gut kennen, da er als Icherzähler tief blicken lässt. Dieser Heranwachsende spürt aber auch bis in die Haarspitzen, wie es um die Gefühle seines Vaters und um die von Rudy bestellt ist.

... die Sprache

Sie ist eine Wucht. Sie fängt die Hitze ein, schafft einzigartig schöne sowie aufwühlende Bilder, ist plastisch und von gnadenloser Direktheit. Und dabei trotzdem nah am Herzen.

... ein Fazit

Dieses Buch hat mich ausgesprochen überrascht. Es beschränkt sich nicht auf die im Klappentext versprochene Spannung und Katastrophe. Es kann mehr.

Ausgezeichnet mit dem Schweizer Literaturpreis 2014.

Samstag, 22. April 2017

"Sie kam aus Mariupol" von Natascha Wodin



"Wenn du gesehen hättest, was ich gesehen habe ..."

Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Natascha Wodin kommt 1945 als Tochter sowjetischer Zwangsarbeiter in einem Lager für Displaced Persons in Fürth zur Welt. Als Natascha gerade zehn Jahre alt ist, bringt ihre labile Mutter Jewgenia sich um.
Über fünfzig Jahre später geht Natascha Wodin im Internet auf Spurensuche nach ihrer in Mariupol aufgewachsenen Mutter. In einer alten Wohnung tauchen im Zuge einer Entrümpelungsaktion die Memoiren ihrer Schwester Lidia auf, Notizen, aus denen sich ein kleiner Teil der "Lebenswelt" Jewgenias zusammensetzen lässt. Diese wird erst neun Jahre nach Lidia geboren und erfährt in ihren jungen Jahren in der Ukraine alle denkbaren Erschwernisse: Bürgerkrieg, Hungersnöte, stalinistische Säuberung, Krieg und Enteignung. Im Rahmen der Verschleppung von Ostarbeitern kommt Jewgenia 1942 nach Deutschland, wo sie zusammen mit Nataschas Vater in einem Montagewerk für Kriegsflugzeuge arbeitet. Nach den Zwangsarbeitseinsätzen bleiben die Eltern in Deutschland, sind jedoch fortan Außenseiter. Natascha und ihre Schwester wachsen in Bayern auf, erleben die Mutter als schwach und unglücklich, bis diese sich schließlich in "stiller Hoffnungslosigkeit" aus dem Leben schleicht.

... ein Zitat

"Ich hatte inzwischen angefangen, an dem geplanten Buch über meine Mutter zu arbeiten. Ich schrieb mit einer Hingabe wie noch nie, mit einem Glücksgefühl, das dem Stoff nicht angemessen war, während mir gleichzeitig schien, als müsste ich mich durch einen Berg graben, dessen Ende ich niemals erreichen konnte."

... was mich bewegt hat

Die kämpferische kühne Lidia, eine bemerkenswerte Frau!
Das nicht abreißende Unglück im Leben der Mutter und schließlich ihr Straucheln. 
Bewegend ist auch alleine schon die Unermüdlichkeit und Hingabe der Autorin.

... die Sprache

Sie ist sehr vielfältig, berauschend schön, wenn Natascha Wodin zum Beispiel von ihrer Wohnung aus auf den Schaalsee blickt und die Natur einfängt, streckenweise auch dokumentarisch, was bei der Fülle der gesammelten Informationen nicht ausbleibt.

... ein Fazit

Gebannt verfolgte ich Natascha Wodins Bemühen, die Mutter aus den "inneren Dunkelkammern" ans Licht zu ziehen. 
Im dritten Teil verliert sie sich meines Erachtens jedoch in vielen Mutmaßungen. Ihr Wunsch nach Lückenlosigkeit ist wohl immens groß. 
Insgesamt grandios. Auf jeden Fall lesenswert.

Die Autorin erhielt dafür 2017 den "Preis der Leipziger Buchmesse".


"Seide" von Alessandro Baricco


"Das Leben wimmelte leise, es bewegte sich mit listiger Langsamkeit ..."


Es bleibt in Erinnerung ...

... die Story

Hervé Joncour unternimmt von seinem französischen Heimatdorf aus Reisen nach Afrika und Japan, um dort Eier der Seidenraupen zu kaufen. Diese werden in der örtlichen Seidenspinnerei benötigt, um eine gesunde Zucht der Schmetterlinge aufrechtzuerhalten. Die ferne Exotik und eine hübsche junge Frau lassen ihn schließlich "vor Sehnsucht vergehen", eine Regung, die ihm bislang gänzlich fremd gewesen ist, lebt er doch eher "im Schutz maßvoller Gemütsbewegungen".
Alessandro hat die Geschichte eines Mannes aufgeschrieben, der plötzlich aus seiner Gleichgültigkeit gerissen wird, woraufhin das Leben ihn für eine kurze Spanne "herumwirbelt", um ihn dann in alte Gewohnheiten zurückzuschicken.
Joncours immer wiederkehrenden Reisen schenken dem Buch einen faszinierenden Rhythmus. das Bild vom Unterwegssein gelingt hier prächtig. Tagelang mit Zug und Pferd entlang an Flüssen und Küsten und mit dem Schiff über den Ozean ziehen. Ein schönes prächtiges  Bild, vor allem, wenn man bedenkt, dass es für ein paar Seidenraupeneiern geschieht.
Und natürlich für Hervés kurze Erleuchtung ...

... ein Zitat

"Bisweilen an windigen Tagen ging er zum See hinunter und schaute stundenlang hinaus, denn es schien ihm, als zeichne sich auf dem Wasser das unerklärliche, schwerelose Schauspiel dessen ab, was sein Leben gewesen war."

... was mich bewegt hat

Hervés exotischer Traum, sein Verlangen, endlich mal intensiv zu fühlen und zu leben. Und die Geschichte des Briefes ...

... die Sprache

Man könnte sie mit "zart wie Seide" beschreiben. Eher einfache, oft kurze Sätze, die aber von innen heraus schön sind. Poetisch.

... ein Fazit

Fast märchenhaft oder wie eine Parabel liest sich dieses Buch. Und schenkt uns eine Botschaft.
Alessandro Baricco hat hier einen internationalen Bestseller geschrieben, den ich nur empfehlen kann. Kurzweilige Lektüre über die Unerreichbarkeit von Glück.